Morton Rhu - Leben und Werk
anderen Worten: »Scheiße, was ich jetzt bin, bin ich für immer!« Stone beklagt, dass Lehrer und Rektoren dieses Gefühl – wohl mit der Intention, die Leistung ihrer Schüler zu steigern – noch verstärken, indem sie den Schülern vermitteln: Wenn du jetzt versagst, wirst du immer versagen. Alternativ wünscht er sich Lehrer oder andere Bezugspersonen, die unglücklichen Jugendlichen überzeugend vermitteln, dass die Highschool nur ein kurzer Abschnitt ihres Lebens ist, dass sie nach ihrem Abschluss weiterziehen können und ihr Leben erst dann richtig anfängt. Jugendliche neigen dazu, die in der Schule erlebte Hierarchie (»die im Football-Team sind oben, und ich bin ganz unten«) ohne weiteres auf ihr künftiges Leben zu projizieren, was sie enorm einschüchtert und unter Umständen auch zu Verzweiflungstaten führen kann. Dabei ist es in Wahrheit ganz anders: »Die Klassendeppen machen später tolle Sachen und die coolen Typen werden Versicherungsagenten in Littleton.« Belegt wird Matt Stones These durch seine eigene Biografie.
Ziel: Das Verbot tödlicher Schusswaffen
Während der Film »Bowling for Columbine«, der sich in erster Linie an ein erwachsenes Publikum richtet, nahezu unumstritten als herausragend gelungene Dokumentation und als wichtiger Beitrag zur Diskussion über das Verhältnis von Amerikanern zu Waffen gilt, stößt »Ich knall euch ab!« manchmal auch auf Kritik – vor allem wegen der Schwierigkeit, gleichzeitig aber auch der Notwendigkeit, – ein solches Thema adäquat für Jugendliche aufzubereiten. Vielleicht hätte Morton Rhue die eine oder andere Gewaltszene mildern können und vielleicht hätte er die Täter weniger freundlich porträtieren können? Vielleicht hätte er in seinen Schilderungen noch brutaler sein müssen und die Täter noch menschlicher darstellen sollen?
Dieses Buch polarisiert. Ich glaube, dass Morton Rhue den Ton sehr gut getroffen hat. Sein Roman ist wichtig gerade auch für Schulen, die bisher das Thema Gewalt ängstlich vermieden haben. Nur wer sich dem Thema stellt, kann die Situation verbessern und ein Frühwarnsystem für extreme Schicksale von Mitschülern entwickeln, für die Gewalt der letzte Ausweg zu sein scheint. Vor dem Massaker von Erfurt sind kritische Besprechungen zu Rhues Buch erschienen, besonders deutlich in der Zeit vom 21. März 2002. Dort wurde die Inkonsequenz des Autors kritisiert, wonach der Roman keine Ursachenforschung betreibe, sondern nur behaupte, unterstelle oder belehre. Der Roman sei gut gemeint, aber nicht gut gemacht. In dieselbe Kerbe schlugen mehrere Literaturkritiker, mit denen ich mich in jenem Jahr auf der Buchmesse in Leipzig über Rhue unterhielt. Diese Vorwürfe sind nicht gerechtfertigt. Rhue geht es nicht um ein literarisches Experiment, sondern um die Sache. Und wie es der tragische Zufall will, wurde Rhues Text durch Erfurt auf furchtbare Weise aktuell, zumal es sehr viele erstaunliche und zum Teil erschütternde Parallelen gibt.
Rhues Prosa zielt darauf, auch jene jungen Leute zum Nachdenken anzuregen, die sonst nur wenig lesen, und sie mit einer Sprache und mit Überlegungen zu fesseln, die ihnen vertraut sind. Sein Roman ist die beste Gewaltprävention, unter anderem, weil er die Leser ganz unmittelbar an der Ursachenforschung teilhaben lässt.
So denkt beispielsweise Emily Kirsch, eine ehemalige Freundin von Brendan, laut nach: Ich weiß nicht, was sich da in Brendan zusammenbraute, aber bei Gary fing es fast gleichzeitig an. Ich fand Gary eigentlich immer eher unglücklich oder deprimiert, also jedenfalls nicht wütend oder aggressiv. Ich meine, ich weiß nicht, ob das, was Gary hatte, von Brendan kam, oder ob Brendan das in Gary nur sozusagen geweckt hat. Ich sage das nicht gern, aber vielleicht hätte Gary sich auch so entwickelt, wenn es Brendan gar nicht gegeben hätte. Aber die beiden zusammen … ich weiß nicht, die haben sich irgendwie gegenseitig hochgeschaukelt.
Morton Rhue macht durch seine Ursachenforschung in Romanform aber nicht nur auf soziale Ausgrenzung aufmerksam, die ein Nährboden für Gewalt sein kann, er stellt noch einen weiteren auslösenden Faktor für solche Gewalttaten in den Mittelpunkt seines Romans: die leichte Verfügbarkeit von Waffen für Jugendliche. Ähnlich wie soziale Missstände ist auch diese gesellschaftliche Schieflage ein Problem, an dem die Öffentlichkeit und die Politik arbeiten können, im Gegensatz etwa zu persönlichen Veranlagungen der Täter, auf die die
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