Moser Und Der Tote Vom Tunnel
ein Schulkind. Aber ich kann mich erinnern, dass mein Vater uns aus der Zeitung vorgelesen hat und mich die Sache sehr beeindruckte. Meine, der Vorfall fand noch im gleichen Jahr wie die Thronbesteigung Wilhelms als preußischer König statt. Also muss es 1861 gewesen sein.
Warten Sie mal … Ach, Greiner, könnten Sie bitte ins Archiv gehen und mir den Folianten mit den Ausgaben der Pirmasenser Zeitung von 1861 bringen.«
Greiner ging mürrisch in die Registratur im Keller des Dienstgebäudes. Nach einigen Minuten kam er zurück in Sehnerts Büro, einen großformatigen Folianten in der Hand. Er blies den Staub vom Einband, bevor er seinem Vorgesetzten den gewünschten Jahrgang der Zeitung reichte.
Sehnert begann zu blättern und gab den Kommentar ab: »Ah, das Jahr fing schon dramatisch an. Gleich am 2. Januar starb König Friedrich Wilhelm von Preußen. Dieser ist uns in Pirmasens deshalb in so guter Erinnerung, weil wir die neue Straße nach Landau seiner Hochzeitsreise zu verdanken haben.
Somit muss das Attentat also wirklich 1861 stattgefunden haben … Mai, Juni … na, irgendwann muss doch der Bericht kommen … Hier ist er ja, in einer Extraausgabe vom 15. Juli 1861.«
»Und steht dort drin, wer das Attentat verübte und welche Motive er hatte?«, fragte Moser ungeduldig.
»Moment, ich muss erst einmal lesen … Also, König Wilhelm kurte mit seiner Gemahlin wie so oft in Baden-Baden. Am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, verließ der König mit seiner Frau das Maison Messemer neben dem Kurhaus, wo das Königspaar Quartier bezogen hatte. Für den Abend war für die vielen französischen Gäste in Baden-Baden anlässlich des Feiertages ein Feuerwerk in der Lichtentaler Allee geplant. Das Königspaar wollte offenbar die Vorbereitungen für das Feuerwerk besichtigen und bog vom Platz vor dem Kurhaus in die Allee ein. Nach wenigen Metern verübte ein offensichtlich verwirrter Mann einen Mordanschlag auf Wilhelm I. Er wurde jedoch nur leicht verletzt, seine Begleiter konnten den Attentäter überwältigen …«
»Wie hieß denn dieser Mann?«, fragte Moser.
»Hier steht, dass es sich um einen Studenten namens Oskar Becker handelte. Seine Motive waren unklar …«, antwortete Sehnert.
»Dann meine ich doch ein anderes Attentat …Ach ja, richtig. Auf Wilhelm wurden schon mehrere Mordanschläge verübt. Der andere muss in Berlin stattgefunden haben. Jetzt fällt es mir wieder ein: Das war an einem 11. Mai, dem Geburtstag meiner Kusine in Landshut, vor etwa zehn Jahren.
Geiger, wo Sie schon einmal stehen, holen Sie doch auch den Folianten von 1878.«
»Wie Sie wünschen, Herr Kriminalrat, aber ich heiße immer noch Greiner.«
»Ja, dann eben Greiner …«
Greiner stieg wieder in den Keller. Auf dem Rückweg machte er jedoch in der Poststelle Halt und schnorrte dort eine Tasse Kaffee. Es dauerte eine Weile, bis er wieder im Zimmer von Sehnert erschien.
»Na, Sie haben wohl etwas länger suchen müssen, wie?«, bemerkte Moser, als Greiner den Band auf den Tisch legte.
»So, dann sehen wir einmal nach. Tatsächlich, wieder ein Extrablatt …Hier steht, dass am 11. Mai 1878 – wie ich schon sagte, am Geburtstag meiner Kusine – auf Kaiser Wilhelm mehrere Schüsse abgegeben wurden. Der damals schon einundachtzigjährige Kaiser war mit seiner Tochter Luise, der Großherzogin von Baden, im offenen Wagen auf der Straße ›Unter den Linden‹ unterwegs, als man mehrere Schüsse auf ihn abfeuerte. Weder der Kaiser noch seine Tochter wurden verletzt. Attentäter war der Leipziger Klempnergeselle Max Hödel, offenbar ein fanatischer Sozialist. Als Waffe wurde ein Revolver sichergestellt … Also kein Gewehr … Das ist wieder nicht der Fall, den ich meine. Denn das betreffende Attentat wurde mit einem französischen Gewehr verübt. Da bin ich mir sicher …«
»Jetzt erinnere ich mich auch wieder«, sagte Sehnert, »damals waren wir auf einem Kongress in München. Dass ich das vergessen konnte …Es wurde in kurzer Zeit zweimal auf den Kaiser geschossen …Warten Sie … hier, am 3. Juni ist ein weiteres Extrablatt eingeheftet.
Also dort steht, am Sonntag, den 2. Juni 1878 wurde nahezu an der gleichen Stelle wie am 11. Mai wieder auf den Kaiser geschossen. Dieses Mal waren Seine Majestät allein im Wagen, die Schüsse kamen aus einem Fenster des Hauses Unter den Linden 18. Der Attentäter schoss zweimal und verwundete den Kaiser mit dreißig Schrotkugeln an Kopf und
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