Mottentanz
mehr als ein Flüstern.
Mein Herz bleibt stehen. »Belly? Bist du das?«
Ich drücke beide Augen fest zu und sauge die Luft ein. Ich rieche Süße und Gewürz. Orangen und Ingwer. Nina. Ich habe keine Angst mehr.
Wir erreichen den oberen Treppenabsatz und drücken die Tür auf. Wir sind in einem großen Wohnzimmer – dunkler Holzboden, große flauschige Sofas, eingerahmte Zeichnungen bedecken auch das letzte bisschen Wandfläche, und dort, ganz alleine in der Mitte des Zimmers, steht meine Schwester.
Meine Schwester.
Sie sieht sowohl genauso als auch ganz anders aus als die Schwester, an die ich mich erinnere.
Unsere Blicke treffen sich nur für einen Moment, und ich fühle eine Wärme, die von der Mitte meiner Brust nach außen dringt. Als sie mich sieht, fängt sie an zu lächeln, doch dann blickt sie hinter mich, zu Sean, und hält inne. Ihr Kiefer fällt runter, ihre Lippen ziehen sich zurück. Es sieht so aus, als würde sie schreien, nur dass kein Geräusch ihren Körper verlässt. Ich habe Nina in meinem ganzen Leben noch nie verängstigt gesehen. Aber nun ist sie entsetzt.
Sie sollte nicht entsetzt sein.
Mein Herz pocht schmerzhaft in meiner Brust. Eisiger Schweiß schießt aus jeder Pore meines Körpers.
Sie sollte verdammt noch mal nicht entsetzt sein.
Dieser letzte Anruf, der im Motel auf Seans Handy einging, den ich mit meinem Fuß angenommen hatte, ich dachte, das sei Nina gewesen. Ich glaubte, ihre Stimme zu hören, wie sie durch den Hörer »hallo« sagte. Und ich dachte, sie hätte alles,
was Sean und ich gesagt hatten, nachdem ich das Handy unter den Schrank kickte, mitgehört. Ich dachte, sie wüsste, dass wir zur Haight Street kommen würden. Und ich dachte, sie würde uns absichtlich zu ihr führen. Ich dachte, sie würde uns retten.
Doch ich habe mich geirrt.
Alles, was ich gedacht habe, war ein Irrtum.
»Nina«, höre ich Seans Stimme über meine Schulter. Ich drehe mich um. Er starrt uns an, seine Nasenlöcher flackern, seine Augen glühen. Er sieht kaum noch wie ein Mensch aus.
»Sean«, sagt sie. »Was tust du hier?«
Sean greift nach der Waffe unter seinem Hemd.
»Ich glaube, das weißt du schon«, sagt er. »Das ist für all das, was du mir angetan hast…« Er klingt, als würde er Zeilen aus einem Drehbuch rezitieren, welches er in seinem Kopf bereits tausendmal geprobt hat.
»Das ist für das, was ich ihm wegen dir angetan habe.«
Er hebt seinen Arm, die Kanone fest in seinen zitternden Händen.
Nina steht nur da, eingefroren, und starrt ihn an.
Die Waffe ist genau auf sie gerichtet.
Jetzt geschieht es.
Jetzt geschieht es.
Jetzt.
Geschieht.
Es.
Und dann, eine Explosion. Nicht von einer abgefeuerten Kugel, sondern von irgendwo in mir:
Nina ist nicht die Einzige, die uns retten kann.
Plötzlich fliege ich durch die Luft und schreie: »LASS MEINE SCHWESTER IN RUHE!!!!«
Ich strecke den Arm aus, erwische Sean direkt unterm Kinn und knicke seinen Kopf nach hinten, hart. Und dann ramme ich mit allem, was ich habe, meine beiden Schultern in die Mitte seines Magens. Wir stürzen auf den Boden. Sean landet auf dem Rücken, seinen Lippen entweicht ein keuchendes Pfeifen. Die Kanone ist ihm aus der Hand geschlagen und schlittert das Holz entlang.
Und für einen Moment sind wir alle still und rühren uns nicht. Ich glaube, nicht einer von uns kann so ganz glauben, was ich gerade getan habe.
»KEINE BEWEGUNG! HÄNDE ÜBER DEN KOPF!« Ich sehe nach oben. Fünf uniformierte Polizeibeamte haben sich aus den Schatten materialisiert. Sie stehen über uns, ihre Waffen sind entsichert und zielen auf unsere Köpfe. Sean dreht sich zur Seite, auf seinem Gesicht ist eine derart komplette und äußerste Fassungslosigkeit, dass er mir für eine Sekunde sogar leidtut.
Aber nur für eine Sekunde.
»Was geht hier vor?«, sagt er. »Ellie? Ellie!«
Ich kann nur den Kopf schütteln.
Ein Polizist biegt seine Arme auf den Rücken und legt ihm Handschellen an. Ein anderer liest ihm seine Rechte vor. Zwei weitere ziehen ihn nach oben, sein Körper ist schlaff wie der einer Puppe, sein Kopf ist gesenkt. Seine Füße streifen kaum über den Boden, als er rückwärts durch die Tür getragen wird.
Doch kurz bevor er draußen ist, blickt er nach oben, und
auf seinem Gesicht ist die Spur von etwas anderem zu sehen. Etwas, das unheimlich stark an Erleichterung erinnert.
Und dann ist er weg.
Ich sehe nach oben. Die Wand hinter Nina ist mit Zeichnungen bedeckt, fotorealistische Szenen aus
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