Mozart - Sein Leben und Schaffen
Literatur ist aber immer auch eine stark geistige und setzt eine geistige, verstandesmäßige Veranlagung voraus. Zumal unsere deutsche Literatur hat von vornherein ein riesiges Gedankenmaterial mit verarbeitet und wurde allsogleich zum heftigen »Sturm und Drang«, der sich keineswegs bloß mit der scharfen Kritik und Aufwühlung des künstlerischen Lebens begnügte, sondern in der Kunst die schärfste Waffe sah zur geistigen Kritik der gesamten Weltauffassung, zur Revolution aller sozialen Begriffe. Gerade wenn wir erkannt haben, daß auch das größte Genie innerhalb der Leistungskraft der Volksseele ersteht, wird es schier unbegreiflich, daß eine so wunderbare Gestalt wie J. S. Bach so gut wie ohne alle Wirkung bleibt. Man halte nur dagegen, wie alle unsere großen Dichter gewirkt haben, trotzdem der Volksgeschmack das Starke in ihnen auch nicht, wenigstens nicht künstlerisch, zu erfassen vermochte; aber ihre bedeutenden Werke haben doch jene bedeutsame Folge gehabt, daß die Nachahmung derselben sich bemächtigte. Der »Messias«, »Minna von Barnhelm«, »Werther«, »Götz«, »Die Räuber«, »Kabale und Liebe« – um jedes dieserWerke schart sich eine fast unübersehbare Masse gleich eingestimmter Epigonenarbeit. Zu der Musik spüren wir von Bachs oder Händels Lebensarbeit so gut wie gar keinen seelischen oder geistigen Einfluß auf das Volk, und selbst die Künstler gewinnen davon kaum etwas, was sie nicht auch in der Vorbereitungsliteratur dieser beiden Riesen hätten finden können.
Es ist nun außerordentlich bezeichnend, daß im Gegensatz dazu der deutsche Süden , die ganzen österreichischen Lande durch die Musik ihre geistige und seelische Erweckung erfahren. Das liegt natürlich nicht bloß an den äußeren Verhältnissen, sondern vor allem auch an der Charakterveranlagung. Jene Teile unseres Volkes, die stets den Wert des Gemüts gegenüber dem verstandesmäßigen Erkennen dargetan haben, mußten von der Musik ganz anders ergriffen werden als der Norden, konnten wohl überhaupt nur auf diese Weise den Fesseln der seelischen und geistigen Enge, die so lange schwer auf Deutschland gelastet hatte, entrissen werden.
Aus der gleichen kleinbürgerlichen Volksschicht wie für den Norden die ersten wahren Dichter, erstehen dem Süden die Musiker Haydn und Mozart. Als dann der Garten wieder im Blütenflor steht, als die lange zurückgehaltenen Kräfte tausendfältig sich regen, da entwickelt sich gegenüber dem literarischen Zentrum Weimar (mit dem steten kritischen und gesellschaftlichen Rückhalt Berlin) das musikalische Zentrum Wien , das eine ebenso starke Anziehungskraft auf die musikalischen Geister des übrigen Deutschlands ausübt wie jenes auf die literarischen. Das gilt nicht nur für die Höhen unseres geistigen Kulturlebens, sondern auch für die breite Volksmasse, die allerdings weder hier noch dort mit der Entwicklung der großen Kunst Schritt zu halten vermochte. Der Ausbildung literarischer Gesellschaften und einer starken Popularliteratur im Norden entspricht für das deutsch-österreichische Gebiet eine außerordentlich hohe Pflege der Hausmusik, an der das ganze Volk, das Kaiserhaus, der Adel bis in die untersten Schichten des Bürgertums teilnahm. –
Für die Jugendzeit Leopold Mozarts, des Vaters unseres Komponisten, kann man noch nicht von einem Aufschwung des geistigenund seelischen Lebens des Volkes sprechen. Gerade das einst so glänzende Augsburg der Fugger war besonders hart mitgenommen worden, erst im Dreißigjährigen Krieg, dann 1703 durch die Plünderung der bayrischen und französischen Armee. Er selber hat für den Stumpfsinn und die Begrenztheit des heimatlichen Lebens zeitlebens ein bitteres Gefühl bewahrt, und als sein Sohn 1777 nach Augsburg reiste, schrieb er ihm: »So oft ich an Deine Reise nach Augsburg dachte, so oft fielen mir Wielands ›Abderiten‹ ein: man muß doch, was man im Lesen für pures Ideal hält, Gelegenheit haben in natura zu sehen«. Um so bezeichnender ist es, daß auch ihm die Musik die Mittel und den Weg gab, aus dem allgemeinen Elend herauszukommen. Denn wenn er auch nach Salzburg gekommen war, um Jurisprudenz zu studieren, so hatte er doch schon in Augsburg seine musikalische Begabung als Kirchensänger gründlich nach allen Seiten hin ausgebildet und sich hier, wie später in Salzburg, durch musikalische Betätigung den Lebensunterhalt verdient. Die Musik sollte auch zu seinem Lebensberuf werden. Da es ihm nicht gelungen war, eine
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