Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mozarts letzte Arie

Mozarts letzte Arie

Titel: Mozarts letzte Arie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Beynon Rees
Vom Netzwerk:
binden den Toten die Kinnladen fest, bevor sie sie in die Särge legen. Wenn Sie meinen, Sie hätten eine schreien gesehen, lag das nur daran, dass sich das Band um ihren Kopf gelöst und der Mund geöffnet hat.»
    Sie drückte meine Hand nach unten und führte sie an einer ledrigen Oberfläche entlang. Trotz der Dunkelheit wusste ich, dass es die Haut einer der Leichen war. Ich versuchte mich von ihr frei zu machen, aber sie war stärker als ich. «Fühlen Sie das? Da?», sagte sie. Sie rieb meine Hand über den langen Schenkelknochen.
    «Er ist gebogen. Er ist nicht gerade», sagte ich.
    «Gebrochen und schlecht gerichtet. Sie muss dünn und schlecht ernährt gewesen sein, obwohl sie gewiss reich war, weil sie hier unten beigesetzt wurde.»
    Meine Finger ertasteten das mürbe Gebein, bis ich merkte, dass Paradis mich nicht mehr festhielt. Ich zog die Hand zurück.
    «Heutzutage kommen alle außer der kaiserlichen Familie in Gemeinschaftsgräber. Die neuen Beerdigungsgesetze. Mankann sich so viele Messen lesen lassen, wie man es sich leisten kann, wird aber trotzdem neben einem Armen beigesetzt.»
    Ich atmete zitternd zwischen den zusammengebissenen Zähnen aus.
    «Seien Sie nicht so zimperlich. Der arme alte Gieseke hätte sich gefreut, auf einem Friedhof, auf dem es keine Standesunterschiede gibt, begraben zu werden. Wolfgang auch», sagte sie. «Das wollen die Freimaurer doch, nicht wahr? Gleichheit. Ein Jammer, dass sie dafür erst sterben müssen.»
    Sie packte mich an der Schulter und führte mich in eine andere Richtung. «Vor zehn Jahren hat man damit aufgehört, die Leichen hier unten abzulegen, aber ich komme immer noch hierher. An den Metallplaketten auf ihren Särgen kann ich sie alle erkennen. Indem ich ihre Finger berühre, ihre Wangenknochen und Schädel.»
    Wir gingen schnell. Die Wand befand sich zu unserer Rechten. Ich meinte Dinge zu sehen, Dunkles vor Dunklerem. Ich fragte mich, ob die blinde Frau, die mich durch die Krypta schob, die Welt so sah.
    Sie blieb stehen. Ich stieß mit dem Fuß gegen eine Stufe.
    «Auf ihrer linken Seite finden Sie eine Laterne», sagte sie.
    Ich hob eine kleine, matt glühende Öllampe auf und schob die Blende zurück. Die Lampe warf einen langen gelben Lichtstrahl. Der Raum, der mir im Dunkeln irgendwie vertraut geworden war, wich zurück. Vor mir sah ich nur einen einzelnen Sarg.
    «Metastasio», sagte Paradis.
    Ich richtete den Lichtschein auf sie. Schweiß stand auf ihrer Oberlippe. Sie musste den Lichtschein wahrgenommen haben, weil sie eine ungeduldige Geste machte, ihn wieder auf den Sarg zu richten.
    Es war ein großer Kiefernsarg, bemalt mit Lauten, Gerippen und Girlanden aus Olivenzweigen. Daneben stand eineKupferurne. «Der kaiserliche Poet?» Ich dachte an die kostbare Ausgabe der Gedichte des Italieners, die Wolfgang von dem Mailänder Grafen geschenkt worden war.
    «Fünfzig Jahre Hofpoet. Schrieb Libretti für ein paar Dutzend Opern, die von unzähligen Komponisten einschließlich Ihres Bruders vertont wurden. Und jetzt liegt er hier – eine ausgeweidete Leiche.»
    «Ausgeweidet?»
    «In der Urne neben dem Sarg könnten Sie das Herz finden, das die Quelle seiner Poesie war, und die Zunge, die sie deklamierte. Und noch ein paar andere Organe.»
    «Ein großes Genie», sagte ich.
    «Jetzt liegen seine Eingeweide in einem hübschen Eimer.»
    Ich sah sie scharf an. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, als hätte sie mich gesehen.
    «Was haben Sie gemacht, seit Sie nach Wien gekommen sind?», sagte sie.
    «Ich hatte etwas zu erledigen.»
    Sie lächelte höhnisch. «Lächerliches Frauenzimmer.»
    «Ich will wissen, wer meinen Bruder ermordet hat», sagte ich.
    Meine Worte wurden von der Gewölbedecke zurückgeworfen. Ich hatte lauter gesprochen als beabsichtigt.
    Paradis sog die Wangen ein. «Wollen Sie etwa auch
Ihre
Eingeweide in einem Topf haben?»
    «Wollen Sie mir drohen?»
    «Liebes, ich bin mit drei Jahren erblindet. Das hat mich eine Weile verbittert. Aber dann habe ich verstanden. In der kurzen Zeit habe ich genug von dieser schrecklichen Welt gesehen, das mir ewig vor Augen stehen wird. Ohne vom Sehen abgelenkt zu werden, sehe ich die Dinge, wie sie wirklich sind.» Sie sprach eindringlich durch zusammengepresste Lippen. «Mir lag zu viel an Ihrem Bruder, als dass ich Sie denWeg dieser Leichen hier unten gehen lassen möchte. Wissen Sie, was Sie tun sollten? Leben Sie mit Wolfgang. Sterben Sie nicht mit ihm.»
    Ihre Augen wirkten grimmig. Ich

Weitere Kostenlose Bücher