Mr. Fire und ich (Band 6)
krank ist, also warum sollten sie sich dann für die Kinder in einem weit entfernten Land wie Darfur interessieren ... Auf diese Frage gibt es eine Antwort. Sie haben geopolitische Interessen.“
„Das ist absurd!“, versetzt Daniel.
„Gar nicht so sehr, Bruderherz“, erwidert Jérémie und schwenkt dabei den Revolver bedrohlich in unsere Richtung. Ich drücke Daniels Hand fester.
„Diane Wietermann ist keine selbstlose Wohltäterin. Sie posiert gerne vor den Kameras, umgeben von abgemagerten, aber lächelnden Kindern. Das ist gut für ihr Image. Um zu verstehen, warum sie ausgerechnet im Sudan aktiv ist, muss man daran denken, dass dieses Land bei der nationalen Goldproduktion einen spektakulären Sprung gemacht hat ... und dass Gold einer der Rohstoffe für die Herstellung des Tercari-Schmucks ist.“
„Worauf willst du hinaus, Haydée?“, fragt Agathe, hellhörig geworden.
„Einfach nur auf die Tatsache, dass dem Unternehmen Tercari zur Wahrung seiner Interessen jedes Mittel recht ist: einen behinderten Sohn in die Verbannung schicken oder sich bei den Exportländern zur Schau stellen.“
„Ich kann dir nicht folgen.“
„In der Region Darfur im Sudan herrscht seit 2003 ein sehr blutiger Bürgerkrieg. Und seit 2003 ist Tercari ein unabdingbarer, mächtiger Spender. Es ist leicht zu verstehen: Mit der einen Hand gibt Tercari, mit der anderen nimmt Tercari.“
„Wie kannst du es wagen, den Namen unseres Hauses zu beschmutzen?“, poltert Daniel los.
„Ach, du bist ungezogen, kleiner Bruder!“, kreischt Jérémie und schießt in die Decke. „Ich hab dir doch gesagt, du sollst die Großen ausreden lassen!“
Ein bisschen Putz rieselt auf uns herunter.
Wie weit wird es dieser Verrückte noch treiben?
„Es ist schade, mein lieber Daniel, dass du nicht weißt, was in deinem Hause vor sich geht“, fährt Haydée unbeirrt fort. „Schon 2004 haben mehrere NGOs die tatsächlichen Absichten von Tercari im Sudan angezweifelt, wo deine Mutter allgegenwärtig ist.“
„Das stimmt, Daniel. Du kannst nicht leugnen, dass sie sehr häufig nach Afrika reist. Und hat sie nicht vor dem Sommer ein Dinner mit Mitgliedern der sudanesischen Regierung organisiert?“, stellt Agathe fest, während sie mit einer Bewegung des Kinns auf ihre Mutter deutet.
„Mein Sohn, ich muss dir sagen, dass der Verdacht, von dem sie spricht, schon seit vielen Jahren besteht und allgemein bekannt ist“, flüstert Camille.
„Nichts als Lügen!“, brüllt der Tercari-Erbe.
Noch nie habe ich Daniel so durcheinander gesehen. Er sieht aus wie ein kleines, verlorenes Kind. Ich kann mir vorstellen, von welchen Zweifeln er geplagt wird. Je mehr Wahrheiten ans Tageslicht kommen, desto mehr zerbröckelt sein Leben vor seinen Augen: Nach wie langer Zeit ist Camille wieder aufgetaucht? Nach zehn Jahren. Seine stumme Schwester beginnt wieder zu sprechen. Kaum hat er sich von diesem Schock erholt, wird er von seinem tot geglaubten Bruder als Geisel genommen und schließlich wird seine Mutter, sein letzter Orientierungspunkt, der Korruption auf Regierungsebene beschuldigt ... Das ist viel, selbst für Daniel Wietermann!
Jérémie lacht rundheraus.
„So ist das, kleiner Bruder! Unsere Familie ist verdorben!“
Das ist zu viel für Daniel: Er stürzt sich auf seinen Bruder. Jérémie verliert das Gleichgewicht, fällt rückwärts zu Boden und lässt die Waffe fallen. Daniel schlägt seinem Bruder ins Gesicht, wobei Jérémie weiter lacht wie ein Geisteskranker. Haydée stürzt nach vorne, um die Waffe zu ergreifen, aber ich habe sie gesehen und Agathe auch. Sie gibt mir ein Zeichen, im Hintergrund zu bleiben, und umklammert ihre Schwägerin, die kreischend um sich schlägt. Als wir gerade alle glauben, das Paar sei besiegt, legt Jérémie plötzlich eine geradezu übermenschliche Kraft an den Tag, vor allem für seinen Zustand: Er schafft es, Daniel einen Faustschlag zu versetzen und sich zu befreien. Mit einer genauso überraschenden Schnelligkeit ergreift er von Neuem die Waffe.
„Jetzt reicht es“, brüllt Jérémie und zielt auf Daniel. „Ich will zurückhaben, was mir zusteht. Gebt mir meinen Namen zurück!“
Ein Schuss fällt. Eine Sekunde lang, eine endlose und schreckliche Sekunde lang, denke ich, dass Daniel getroffen wurde.
Nicht das! Nicht Daniel!
Vor meinen Augen verschwimmt alles, ich bin kurz davor, ohnmächtig zu werden. Ich stürze zu ihm hin, wie gelähmt vor Angst.
Die Wirklichkeit ist schrecklich, aber
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