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Mr. Lamb

Mr. Lamb

Titel: Mr. Lamb
Autoren: Bonnie Nadzam
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Morgen früh machen wir alles rückwärts.«
    »Buchsen?«
    »Also«, sagte er, »jetzt gib mal Ruhe.«
    Sie hörte ihn draußen vor der Tür zählen. Sechzig, neunundfünfzig, achtundfünfzig. Und sie machte alles, was er gesagt hatte, wusch sich das Gesicht und benutzte eins der kleinen duftenden Seifenstücke, sechsunddreißig, fünfunddreißig, und einen dünnen Waschlappen, kämmte sich die Haare mit den Fingern, einundzwanzig, zwanzig, betrachtete ihr Profil im Spiegel, von der einen Seite, von der anderen Seite, zog sich das T-Shirt hoch und sah nach, ob Brüste zu wachsen begannen, zog sich aus, neun, acht, und streckte die Beine unter dem kalten Laken aus.
    Als Lamb wieder ins Zimmer kam, blieb er abrupt stehen. Dann ging er zwischen die Betten und knipste die Lampe an einem Schalter an, der die Form eines kleinen bronzenen Schlüssels hatte. Er blickte auf das T-Shirt und die Jeans des Mädchens auf dem Fußboden.
    »Das sind deine Sachen.«
    Er beugte sich runter und hob sie auf, ein Stück, dann das andere, faltete sie und legte sie über die Rückenlehne des Stuhls, dann sah er sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
    »Hab verstanden.«
    »Du siehst so sauber und frisch aus«, sagte er. »Den Bauch mit Pizza voll. Zufrieden, ja?«
    Sie nickte.
    »Gut«, sagte er. »Das ist meine Aufgabe. Dich zufrieden zu machen. Und du kannst dabei helfen, wenn du es mir sagst, falls du nicht zufrieden bist. Oder wenn du denkst, dass du es vielleicht nicht bist. In Ordnung?«
    »Hab ich’s gut.«
    »Du bist süß.« Er nahm eine Papiertüte und holte zwei Plastikbecher heraus, einer lila, einer grün, mit Cartoon-Figuren, die um den Rand herumtanzten. »Was anderes hatten sie nicht.«
    »SpongeBob.«
    »Wenn du es sagst.«
    Er nahm einen roten Literkarton Milch aus der Tüte, füllte die beiden Becher damit, dann nahm er das Kissen von seinem Bett und steckte es ihr in den Rücken, wobei er ihre Schultern und ihren Kopf berührte. Machte es ihr einfach bequem. Er gab ihr einen der Plastikbecher mit Milch.
    »Jetzt möchte ich sehen, dass du das trinkst«, sagte er. »Gott, du siehst gut aus. Du siehst aus wie eine perfekte … kleine Person. Nun trink. Das tut dir gut.«
    Sie lächelte ihm zu.
    »Oder magst du keine Milch?«, fragte er besorgt.
    »Doch.«
    »Aber du denkst, ich behandle dich wie ein Baby, oder? Das tue ich nicht. Eine junge Dame in deinem Alter braucht Milch für die Knochen.«
    Er hob seinen Becher, sie ihren, und sie tranken.
    »Das war klug von mir, die Milch zu kaufen.« Er grinste. »Es ist genau das, was du da im Bett brauchen konntest.«
    Sie ließ sich nach hinten in die Kissen sinken und sah ihn über den Rand des Bechers an, und er saß auf seiner Bettkante.
    »Das ist ein guter Moment. Weitab von der Stadt. In unseren hübschen kleinen Betten, und draußen die reine Nachtluft. Ein bisschen wie Zelten. Oder wie Bruder und Schwester, die sich ein Zimmer teilen.«
    Sie schnaubte. »Und du bist der große Bruder, oder?«
    »Nein. Ich bin der kleine Bruder. Du bist die große Schwester. Groß. Und klug. Stimmt’s? Und du bringst mir alles über die Welt bei, was ich lernen muss.«
    »Gary.«
    »Ja, Süße.«
    »Es könnte sein, dass ich vielleicht meine Mom anrufen möchte.«
    »In Ordnung.«
    »In Ordnung?«
    »Morgen früh?«
    »Ist gut.«
    »Was möchtest du ihr sagen?«
    »Dass alles in Ordnung ist, dass es mir gut geht und sie sich keine Sorgen zu machen braucht.«
    »Meinst du, sie wird sich auf jeden Fall Sorgen machen?«
    »Ja.«
    »Meinst du, wenn du sie anrufst, macht sie sich vielleicht noch mehr Sorgen?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Darüber sollten wir lieber nachdenken.«
    Er nahm ihr den Becher aus den Händen, stellte ihn auf den Nachttisch und schaltete das Licht aus. Er streckte sich auf seinem Bett aus, legte den Kopf auf die verschränkten Arme und sprach mit weicher, knisternder Stimme.
    »Erinnerst du dich an das alte Pferd, von dem ich dir erzählthabe?« Ihr Haar raschelte am Kissen. »In dieser Geschichte hat es ein rotes Fell. Möchtest du die Geschichte hören?«
    »Ja, gerne.«
    »Als das Mädchen, das Mädchen in unserer Geschichte, das Pferd fand, lebte es im eintausendelften Stockwerk eines gläsernen Wolkenkratzers in einer kalten und übervölkerten Stadt. Alle Menschen in dem Gebäude hatten kleine gläserne Büros, und überall gab es Spiegel. Die Decken waren Spiegel, die Wände auch. Alle Männer trugen helle Hemden und dunkle Krawatten, und alle Frauen hatten
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