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Mr. Lamb

Mr. Lamb

Titel: Mr. Lamb
Autoren: Bonnie Nadzam
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enge blaue Röcke an, und sie alle warfen Millionen und Abermillionen Spiegelbilder von sich selbst tief in die Wände und die Fußböden und die Decken hinein. Kannst du dir das vorstellen?«
    »Mhmm.«
    Sie sah ihm zu, während er erzählte, er lag auf der Seite, auf einen Ellbogen gestützt, einen Stiefel auf dem anderen.
    »Davon wurde dem Pferd ganz schwindlig, und das bemerkte das Mädchen. Das Pferd saß da oben fest und starrte den langen, sich spiegelnden silberfarbenen Flur entlang. Das Mädchen trug ein gelbes Kleid, von der Farbe frischer Butter, und sie führte das Pferd zu dem verspiegelten Aufzug, in den Aufzug hinein, und fuhr mit ihm nach unten. Die beiden fuhren zehn Stockwerke nach unten, das Herz hüpfte dem Mädchen in der Brust, das warme Fell des Pferdes schmiegte sich an ihre Hand, und sie fuhren immer schneller, immer weiter nach unten. Hörst du auch zu?«
    »Ich schlafe schon fast.«
    »Gut. Noch mal zehn Stockwerke weiter. Und hundert. Immer, immer weiter nach unten. Das Herz schlug ihr bis zum Halse, so schnell ging die Fahrt. In ihrem Kopf war ein Flattern wie von Vogelflügeln, und ihre Arme und Beine wurden schwer und immer schwerer. Plötzlich, auf der siebenundsiebzigstenEtage, ging die Tür auf. Menschen, milliardenfach gespiegelt, die Arme voller Papiere und grüner Ordner, starrten das Mädchen und das Pferd an, doch dann schlossen sich die Türen wieder, und der Aufzug fuhr weiter nach unten, und das buttergelbe Kleid des Mädchens kroch zu den Knien hoch und über ihre Hüften und ihren Kopf, und dann waren sie unten. Die Türen öffneten sich, das Mädchen und das Pferd stiegen aus.«
    »Gott sei Dank«, sagte das Mädchen mit schläfriger Stimme.
    Er lachte. »Ja. Stimmt. Aber draußen auf der Straße war es noch schlimmer. Überall stählerne Fahrzeuge, Beton und Lärm. Das Mädchen beugte sich über das Pferd und versprach ihm, es nach Hause zu bringen. Du gehörst hier nicht hin, flüsterte sie ihm ins Ohr. Und ich auch nicht. Bist du noch wach?«
    »Halb.«
    »Sie führte das Pferd zwischen den Reihen schwarzer und blauer Autos hindurch und aus der Stadt hinaus. Hinter einer Tankstelle machten sie Pause und schliefen auf der flachen, harten Erde, zwischen Glasscherben und Kaugummipapier und Silberfolie. Als sie endlich in Iowa ankamen, waren beide todmüde und halb verhungert.«
    »Ganz erledigt.«
    »Ja, ganz erledigt, das stimmt.« Er streckte die Hand aus und zwickte sie in den Arm. Sie schrie auf. Er war überrascht, welches Wohlgefühl es ihm verschaffte, sie zu zwicken. »Schlaf nicht ein«, sagte er. »Wir sind fast da. In Iowa ging gerade die Sonne unter. Alles sah ganz weich aus. Langstielige unkrautartige Blumen bogen sich hierhin und dorthin, das Gras war grün, und die Blätter der knorrigen Eichen waren auch grün, und alles wechselte ins Dunkle, Grün zu Blau zu Schwarz, je weiter die Sonne unterging. Die Schatten dünner Baumstämme lagen auf dem Boden, und meilenweit entfernt von der Straße stand ein winziges Haus mit quadratischen Fenstern, die im Dunkelngelb leuchteten. Das Mädchen glitt von dem weichen, feuchten Pferderücken herab. Ihr gelbes Kleid war schmutzig, ihre Arme und Wangen waren sonnengebräunt. Das Pferd ging hinter ihr her durch das hohe feuchte Gras zu dem Haus. Sie drehte sich um und vergewisserte sich, dass es noch da war, und es rieb seine Nase unter ihrem Kinn.«
    »He.« Plötzlich richtete sich das Mädchen auf. »Was ist das für eine eklige Geschichte?«
    »Wieso? Eklig?« Lamb machte ein Gesicht, als wäre er verletzt, und legte die Hand aufs Herz. »Wie kommst du denn auf so was?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Aber ich weiß es. Und wenn wir an der Old El Rancho Road sind, wird nicht ferngesehen. Überhaupt nicht.«
    »Ich gucke gern fern.«
    »Das stimmt nicht. Das glaubst du nur.«
    »Gar nicht wahr.«
    »Hast du mal in einem Haus gewohnt, wo es kein Fernsehen gab?«
    »Nein.«
    »Wie willst du dann wissen, ob es ohne Fernsehen nicht besser sein könnte?«
    Sie sagte nichts.
    »Hör zu, Tommie. Es ist eine schöne Geschichte, okay? Sie ist überhaupt nicht eklig. Wenn du denkst, sie ist eklig, höre ich jetzt auf. Vielleicht willst du sie nicht hören.«
    »Doch.«
    »Gut. Liegst du bequem?«
    »Ja.«
    »Und möchtest du wissen, wie es weitergeht?«
    »Erzähl einfach.«
    »Das Mädchen ging zu den Fenstern und sah in die dunkleKüche hinein. Das Pferd half ihr, über die Fensterbank ins Haus zu klettern. Als sie wieder aus dem
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