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Mr. Lamb

Mr. Lamb

Titel: Mr. Lamb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bonnie Nadzam
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hatten, sie würde davon nichts verstehen. Dass sie am Wochenende Büstenhalter kaufen gegangen waren und ihre Sportsachen in Tüten von Victoria’s Secret mit in die Schule genommen hatten. Dass sie zu Tommie gesagt hatten, eines Tages hätte sie vielleicht auch Grund, bei Victoria’s Secret einzukaufen. Dass Jenny in Tommies Namen einen Liebesbrief an Tommies Stiefvater geschrieben und ihn im Bus laut vorgelesen hatte. Dass sie Tommie zusammen mit Luke Miller bei Sid in einen Kellerraum gesperrt und sie dann Zimperliese genannt hatten, und dass sie überall rumerzählt hatten, Tommie habe geweint und die Hände vors Gesicht gelegt und sich hinter dem Regenmantel von Sids Vater versteckt. Dass es beim ersten Mal so ausgesehen habe, als wäre sie – ja, doch – gegen ihren Willen in das Auto von diesem Typen gezerrt worden. Welche Farbe hatte der Ford? Wie groß war der Mann? Welche Haarfarbe hatte er? Glich er jemandem aus dem Fernsehen? Dass Tommie danach nicht mehr mit dem Bus gefahren sei. Dass Jenny gesehen habe, wie Tommie immer wieder mit der Schuhspitze den Buchstaben G nachzog, eine ganze Geschichtsstunde lang. Dass deshalb jetzt nach Männern, die Gerald, Grant, Gary, Gene oder Glen hießen und einen dunkelblauen Ford Explorer fuhren, gesucht wurde. Dass der Sozialarbeiter – mit langer, strähniger blonder Mähne und ergrauenden Schläfen – kein Wort davon glaubte. Ein gutaussehender Mann, der ein bisschen wie ein Fernsehstar wirkt, freundet sich mit diesem in keiner Weise bemerkenswerten Mädchen an und nimmt sie mit? Ein solcher Mann wird nicht von seiner Familie vermisst? Von seinem Chef? Oder von seiner Frau? Das alles klang wie eine Geschichte, die sich ein Kind ausgedacht hatte.
    Und stellen wir uns vor, Jessie habe sich zu Wort gemeldetund sich an die Spitze der Gruppe gesetzt. Habe deutlich gemacht, wie sehr er sie vermisste, welche Zuneigung er zu dem Kind empfand und wie sehr ihm ihre Anhänglichkeit fehlte. So würde er es nennen: Anhänglichkeit. Und die Ermittlungsbeauftragten würden denken, wenn sie mit ihm sprachen, er selbst könnte das getan haben, könnte sie irgendwohin gebracht haben und versteckt halten, er selbst könnte der Typ sein. So lebhaft, wie er sich alles vorstellen konnte. Er selbst könnte ein Verdächtiger sein. Und wie froh er war, dass sie nicht seine eigene Tochter war, denn wie hätte er sich gefühlt, schließlich war er selbst ein Mann und wusste, was höchstwahrscheinlich mit ihr geschehen war. Das hätte er niemals ertragen.
    Stellen wir uns außerdem vor, dass die Kinder in der Schule von nichts anderem sprachen, drei Tage lang, vielleicht eine Woche lang, oder sogar zwei, dass aber Tommie – so, wie David Lamb es ihr später versprechen würde – zu einem Geist wurde und alle sie vergaßen. Alle, außer einem Jungen, einem mageren Jungen, sagen wir, der keine Freunde hatte und dem immerzu die Nase lief, dessen Eltern sehr religiös waren und der insgeheim seit Jahren in Tommie verliebt war, der im Matheunterricht neben ihr saß und vor dem Unterricht seine Bleistifte versteckte, damit er sie während der Stunde um einen bitten konnte. Sagen wir, Tommie hätte Jenny und Sid gegenüber nie etwas davon erzählt, aber immer einen Extra-Bleistift für ihn eingepackt. Sagen wir, sie hätte ihm sogar erlaubt, Lambs silbernen Anspitzer zu benutzen, und im Turnunterricht mit ihm Squaredance getanzt, hätte aber vor Jenny und Sid immer so getan, als fände sie seine mageren feuchten Hände abstoßend. Sein Leben würde sich durch Tommies Verschwinden verändern, und er würde darüber verstehen lernen, was es mit dem Universum auf sich hatte. Vielleicht würden seine Eltern nach Nashville oder Buffalo oder Dallas ziehen, bevor er herausfindenkonnte, was mit Tommie geschehen war. Er würde sein Erwachsenenleben leer lassen und sich stählen gegen den fortwährenden Schock, den das Wissen bedeutete, dass sie entführt worden war. Sagen wir, dieses Wort sei benutzt worden: entführt.
    * * *
    Die Hütte bestand aus einem großen Raum, es gab ein kleines Spülbecken und eine Küchentheke von einem halben Quadratmeter, ein Schlafsofa, eine Liege, einen Propangasofen und einen Propangasherd. Es roch nach Staub und schwach nach Urin und Gas. Überall auf dem Fußboden war Mäusedreck.
    »Wenn ich wieder hier einziehe«, sagte Lamb zu dem Mädchen, das sich die Nase zuhielt, »dann wird hier gründlich sauber gemacht.«
    Es gab ein winziges Bad: Waschbecken und

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