Mr. Peregrines Geheimnis: Roman (German Edition)
Spiegel zwischen ihnen. Nur noch fünf Schritte. Zwei. Eins.
Hastig packte er den Rahmen, stemmte sich hoch und zog sich mit aller Kraft hinein. Er fühlte noch, wie der Netz-Schrubbler nach seinen Füßen griff, und er hörte, wie das Motorrad gegen den Spiegel prallte, aber es war keine Erschütterung zu spüren. Dann fiel er im Wandschrank seines Zimmers auf den Boden.
Darwen setzte sich auf, und als er sich wieder umwandte, konnte er gerade noch sehen, wie einer der Schrubbler, dessen rote Knopfaugen hinter der dicken Schutzbrille aus Messing glühten, gegen die Oberfläche des Spiegels schlug und versuchte, seine behandschuhte Faust hindurchzustecken. Aber die Portula war verschlossen – aus welchem Grund auch immer –, und instinktiv wusste Darwen, dass der Schrubbler genauso gut hätte versuchen können, durch eine Betonplatte zu fassen.
Er war in Sicherheit.
»Ist alles in Ordnung bei dir?«, ertönte die Stimme seiner Tante durch die geschlossene Zimmertür.
»Ja«, rief Darwen. »’tschuldigung. Ich bin nur … aus dem Bett gefallen. Mir geht’s gut.«
»Pass besser auf«, sagte seine Tante. »Und ruh dich aus.«
»Mach ich«, sagte Darwen.
Er war noch nie in seinem ganzen Leben so erschöpft gewesen. Seine Arme zitterten, obwohl das ebenso an der Angst wie an der Anstrengung liegen konnte. Vorsichtshalber nahm er das blaue T-Shirt, das in seinem Schrank hing, und warf es über den Spiegel. Er hätte nicht schlafen können, solange er glaubte, dass diese Geschöpfe zu ihm hineinsehen konnten.
K A P I T E L 1 0
Am nächsten Tag untersuchte er den Spiegel noch sorgfältiger als am Vortag, und obwohl die gläserne Oberfläche wieder völlig fest war und ganz normal aussah, war Darwen doch sehr beunruhigt.
Er machte sich Sorgen, weniger um sich selbst, vielmehr um Motte und ihre Welt. Was hatte das alles zu bedeuten? Die Talfee hatte gesagt, dass der Wald ein sicherer Ort war, dass die schrecklichen Wesen, wegen denen sie und ihresgleichen seit Generationen Wache hielten, nicht hinein konnten. Aber sie hatte auch gesagt, dass Menschenkinder seit Neuestem dort sehr begehrt seien. Seit Neuestem. Das hieß doch, dass sich etwas geändert haben musste, auch wenn er keine Ahnung hatte, was das sein konnte. Er wusste, dass Motte in Gefahr war, ebenso wie all ihre Artgenossen und die Wälder, in denen sie lebten. Darwen musste etwas tun. Für ihn war der Wald inzwischen ebenso ein Zuhause geworden wie für sie, und Motte, die winzige, zerbrechliche, wehrlose Motte, brauchte ihn.
All das ließ nur einen Schluss zu: Er musste noch einmal in das Spiegelgeschäft. Der alte Mann würde ihm seine Fragen beantworten können. Das musste er einfach.
Den ganzen Morgen über beschäftigte Darwen daher die Frage, wie er am besten wieder ins Einkaufszentrum kommen konnte. Während der Mittagspause durfte er das Schulgelände nicht verlassen, und am Abend sollte er zum Archäologie-Club stoßen, bevor ihn seine Tante abholte – aber es machte ihn verrückt, so untätig herumzusitzen.
Was konnte nicht alles geschehen sein, seit er den Wald verlassen hatte? Die monströsen Schrubbler waren vielleicht immer noch da und jagten Motte zwischen den Bäumen herum. Er wollte sich nicht ausmalen, was passieren würde, wenn diese Ungeheuer sie erwischten.
Auch später, als er in der Schule in seinem Klassenzimmer saß, dachte Darwen fieberhaft über diese Frage nach. Wenn er sich früher als geplant beim Archäologie-Club verabschiedete, zum Einkaufszentrum rannte und Mr. Peregrine aufsuchte, vielleicht konnte er dann rechtzeitig zurück sein, bevor seine Tante ihn abholen kam? Er würde nicht viel Zeit haben, aber er konnte einfach keinen weiteren Tag warten. Das war schlicht unmöglich.
Er kam sich komisch vor in seiner grün-goldenen Uniform, aber zumindest passte sie ihm, und er fiel nicht mehr auf. Er saß jetzt zwischen zwei Mädchen. Die eine war klein und dünn und wurde von den anderen Mad genannt, wobei er sich fragte, wie ein solcher Spitzname, der ja wörtlich »verrückt« bedeutete, wohl zustande gekommen war. Die andere, die Princess hieß, kämmte sich dauernd mit den Fingern durch die blonden Haare, bis Miss Harvey ihr sagte, sie solle damit aufhören.
»Du weißt, wer sie ist, oder?«, fragte Alexandra O’Connor, die neben Darwen auftauchte und zu der Blonden hinübernickte, als die Schüler von Miss Harvey aufgefordert worden waren, sich von einem kleinen Wagen Bücher zum Lesen zu holen. »Ihre
Weitere Kostenlose Bücher