Mr. Vertigo
klebte, dass man, sobald man sich am Kopf kratzen wollte, mit dem Ellbogen an den Himmel stieß. Ich hatte gedacht, ich könnte dort ein bisschen absahnen, ein paar Tage rumhängen und mein Sparschwein auffüllen und dann so richtig stilvoll nach Saint Louis zurückreisen. Ein kurzer Rundgang überzeugte mich davon, dass ich mir das abschminken konnte, und eine halbe Stunde nach meiner Ankunft machte ich mich auf die Suche nach einem Zug, der mich da rausbringen sollte.
Mutlos und niedergeschlagen, wie ich war, merkte ich gar nicht, dass es zu schneien angefangen hatte. Im März gab es in dieser Gegend die schlimmsten Stürme, aber der Tag hatte so klar und heiter angefangen, dass ich mit einem Wetterumschwung nicht gerechnet hatte. Es begann mit einem leichten Schneegestöber, ein bisschen Weiß, das aus den Wolken rieselte, doch während ich auf der Suche nach dem Bahnhof durch die Straßen ging, fielen die Flocken immer dicker und dichter, und als ich fünf oder zehn Minuten später stehen blieb, um mich zu orientieren, stand ich schon bis zu den Knöcheln in dem Zeug. Es schneite wie aus Eimern. Und ehe ich Schneesturm sagen konnte, schlug mir der Wind den Schnee aus allen Richtungen gleichzeitig um die Ohren. Richtig unheimlich, wie schnell das ging. Eben war ich noch durch die Straßen von Wichita spaziert, und jetzt tappte ich blind und hilflos durch einen weißen Orkan. Ich hatte keine Ahnung mehr, wo ich war. Der Sturm tobte wie wild, und ich, zitternd in meinen durchnässten Sachen, stolperte mittendrin im Kreis herum.
Keine Ahnung, wie lange ich in dieser Suppe herumgeirrt bin. Mindestens drei Stunden, möchte ich meinen, vielleicht auch fünf oder sechs. Ich war am späten Nachmittag in die Stadt gekommen, und nach Einbruch der Dunkelheit war ich noch immer auf den Beinen und wühlte mich durch riesige Schneewehen, die mir erst bis zu den Knien gingen, dann bis zur Hüfte und schließlich bis zum Hals; verzweifelt suchte ich nach irgendeinem Ort, der mir Schutz bieten könnte, bevor mich der Schnee vollständig verschluckte. Ich musste in Bewegung bleiben. Die kleinste Pause, und ich wäre begraben gewesen, und ehe ich mich befreit hätte, wäre ich entweder erfroren oder erstickt. Also kämpfte ich mich immer weiter voran, obwohl ich wusste, dass es hoffnungslos war, dass jeder Schritt mich meinem Ende näher brachte. Wo sind die Laternen, fragte ich mich unablässig. Ich geriet immer weiter aus der Stadt heraus, in eine Gegend, wo niemand wohnte, aber ich konnte mich drehen und wenden, wie ich wollte, die Dunkelheit blieb immer dieselbe, ich war ringsum von Nacht und Kälte umgeben.
Nach einer Weile kam mir das alles ganz unwirklich vor. Mein Verstand hatte aufgehört zu arbeiten, und mein Körper schleppte mich nur noch weiter, weil ihm auch nichts Besseres einfiel. Als ich in der Ferne einen schwachen Lichtschein bemerkte, nahm ich das kaum zur Kenntnis. Ich taumelte darauf zu wie eine Motte, die auch nicht weiß, was sie tut, wenn sie auf eine Kerze zuflattert. Bestenfalls erblickte ich ein Traumbild in dem Licht, eine Sinnestäuschung, die mir von den Schatten des Todes vorgegaukelt wurde, und obwohl ich es die ganze Zeit vor mir sah, nahm ich an, es wäre verschwunden, bevor ich es erreicht hätte. Wie ich die Treppe hochgekommen bin und dann vor der Tür gestanden habe, daran kann ich mich nicht erinnern, nur noch an meine Hand, die nach dem weißen Porzellanknopf griff, und dann meine Überraschung, als der Türknauf sich drehte und das Schloss aufsprang. Ich trat in den Flur, und dort war es so hell, so unerträglich grell, dass ich die Augen schließen musste. Als ich sie wieder aufmachte, stand vor mir eine Frau – eine schöne Frau mit roten Haaren. Sie trug ein langes weißes Kleid, und ihre Augen sahen mich so erstaunt, so erschrocken an, dass ich fast in Tränen ausgebrochen wäre. Ein paar Sekunden lang hielt ich sie für meine Mutter, und als mir dann einfiel, dass meine Mutter tot war, ging mir auf, dass ich selbst gestorben und soeben in den Himmel gekommen sein musste.
«Gütiger Himmel», sagte die Frau. «Du armer Junge. Sieh dich nur an.»
«Entschuldigen Sie die Störung», sagte ich. «Mein Name ist Walter Rawley, ich bin neun Jahre alt. Ich weiß, es hört sich vielleicht komisch an, aber ich wär Ihnen dankbar, wenn Sie mir sagen könnten, wo ich bin. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich bin im Himmel, und das kommt mir nicht richtig vor. Bei dem ganzen Mist, den ich
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