Mr. Vertigo
dass es mir gar nichts mehr ausmachte, mit den Geächteten dieser Welt zusammenzuleben. Es war schon ein komischer, unangenehmer Verein, aber trotz meinem ewigen Gemecker und schlechten Benehmen hatte jeder von ihnen eine gewisse Zuneigung zu mir entwickelt, und so ein grober Klotz war ich nicht, dass ich das übersehen hätte. Vielleicht lief es einfach darauf hinaus, dass ich mich schließlich an sie gewöhnte. Wenn man jemandem lange genug ins Gesicht schaut, bekommt man am Ende das Gefühl, sich selbst zu sehen.
Das alles hat mir das Leben aber keine Spur leichter gemacht. Zunächst ließ es sich noch schlimmer an als vorher, und dass ich meinen Widerstand ein wenig gedrosselt hatte, hieß noch lange nicht, dass ich jetzt nicht mehr der kleine Klugscheißer war, der streitsüchtige Dickschädel wie eh und je. Wir hatten jetzt Frühling, und eine Woche nach meiner Wiederherstellung war ich schon wieder draußen auf dem Feld, pflügte und säte und rackerte mich ab wie ein dreckiger dämlicher Bauer. Körperliche Arbeit war mir ein Gräuel, außerdem hatte ich kein bisschen Talent dazu, drum waren diese Tage für mich die reinste Tortur, eine endlose Quälerei mit Blasen, blutigen Fingern und gequetschten Zehen. Aber immerhin war ich nicht allein. Ungefähr einen Monat lang arbeiteten wir vier zusammen da draußen; alles andere wurde zurückgestellt, denn es galt, rechtzeitig die Saat (Mais, Weizen, Luzerne) auszubringen und den Boden für Mutter Sioux’ Gemüsegarten vorzubereiten, damit wir den Sommer über genug zu essen hatten. Zum Rumstehen und Reden war die Arbeit zu anstrengend, aber jetzt hatte ich wenigstens ein Publikum für meine Klagen, und wann immer ich eine meiner sarkastischen Bemerkungen ausstieß, gelang es mir, einen von ihnen zum Lachen zu bringen. Das war der große Unterschied zu der Zeit vor meiner Krankheit. Mein Mund war pausenlos in Bewegung, aber während meine Kommentare früher als boshaftes, undankbares Gemecker betrachtet worden waren, verstand man sie nun als Scherz, als übermütigen Schabernack eines gewitzten kleinen Clowns.
Meister Yehudi schuftete wie ein Ochse, er stürzte sich in die Arbeit, als sei er auf dem Land aufgewachsen, und schaffte stets mehr als wir anderen zusammen. Mutter Sioux kroch beharrlich, sorgfältig und schweigsam in gebückter Haltung durch die Ackerfurchen, sodass man immer nur ihr mächtiges Hinterteil vor dem Himmel aufragen sah. Sie entstammte einem Volk von Jägern und Kriegern, und die Landwirtschaft war für sie nicht weniger unnatürlich als für mich. Aber so ungeschickt ich mich auch anstellen mochte, bei Äsop war es noch schlimmer, und es tröstete mich, dass er genauso wenig begeistert davon war wie ich, seine Zeit mit dieser Schinderei zu verschwenden. Er wäre lieber im Haus geblieben, um in seinen Büchern zu lesen oder seinen Träumen und Gedanken nachzuhängen; dem Meister gegenüber hielt er sich mit offener Kritik zurück, aber dafür war er für meine spitzen Bemerkungen umso empfänglicher und reagierte auf meine Tiraden mit schallendem Gelächter, das sich immer anhörte wie ein lautes Amen, mit dem er mir bestätigte, dass ich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Bis dahin hatte ich Äsop für einen Musterknaben gehalten, einen harmlosen Tugendbolzen, der sich immer an die Regeln hielt, aber nachdem ich ihn dort draußen auf dem Acker hatte lachen hören, bekam ich allmählich ein neues Bild von ihm. Er hatte mehr Temperament in seinen krummen Knochen, als ich mir eingebildet hatte, und so ernst und hochnäsig er sich gebärdete, er war genauso aufs Vergnügen aus wie jeder andere Fünfzehnjährige. Ich verschaffte ihm ein bisschen Spaß und Erleichterung. Meine spitze Zunge kitzelte ihn, meine dreiste Frechheit belebte ihn, und allmählich begriff ich, dass er kein Quälgeist und Rivale mehr war. Er war mein Freund – der erste echte Freund, den ich je gehabt hatte.
Ich will ja nicht sentimental werden, aber ich rede hier immerhin von meiner Kindheit, vom Flickenteppich meiner frühesten Erinnerungen, und da es aus meinen späteren Jahren so wenig dergleichen zu berichten gibt, verdient meine Freundschaft mit Äsop erwähnt zu werden. Nicht weniger als Meister Yehudi selbst prägte er mich auf eine Weise, die mich im Innersten verändert und meinem Leben eine neue Richtung gegeben hat. Das bezieht sich nicht nur auf meine Vorurteile, die alte Hexenkunst, bei anderen nie über ihre Hautfarbe hinwegzusehen, sondern auch auf
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