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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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angestellt habe, hab ich immer gedacht, ich würde in die Hölle kommen.»
    «Du liebe Zeit», sagte die Frau. «Sieh dich nur an. Du bist ja halb erfroren. Komm ins Wohnzimmer und wärm dich am Ofen.»
    Bevor ich meine Frage wiederholen konnte, nahm sie mich bei der Hand und führte mich um die Treppe herum zum Vorderzimmer. Als sie die Tür aufmachte, hörte ich sie sagen: «Darling, zieh dem Jungen die Sachen aus und setz ihn an den Ofen. Ich hol von oben ein paar Decken.»
    Also trat ich allein über die Schwelle ins warme Wohnzimmer; der Schnee fiel in Klumpen von mir ab und schmolz zu meinen Füßen. An einem kleinen Tisch in der Ecke saß ein Mann. Er trug einen piekfeinen perlgrauen Anzug und trank Kaffee aus einer zierlichen Porzellantasse. Sein Haar war glatt und scheitellos nach hinten gekämmt, die Pomade glänzte im gelben Licht der Lampe. Mich traf der Schlag, es war der schlimmste Schock, den ich in meiner ganzen langen Laufbahn erlitten habe.
    «Nun weißt du Bescheid», sagte der Meister. «Lauf, wohin du willst: Ich bin schon da. Lauf, so weit du willst: Ich stehe am Ziel und erwarte dich. Meister Yehudi ist überall, Walt, es ist unmöglich, ihm zu entkommen.»
    «Du gottverdammter Scheißkerl», sagte ich. «Du hinterhältiges Stinktier. Du dreckiger Lumpenhund.»
    «Hüte deine Zunge, Kleiner. Mrs. Witherspoon, der dieses Haus gehört, duldet solche Flüche nicht. Wenn du nicht wieder in diesen Sturm hinausgeschickt werden willst, legst du jetzt die Kleider ab und benimmst dich.»
    «Fass mich bloß nicht an, du Judensau», fauchte ich zurück. «Versuch bloß nicht, mich anzufassen.»
    Aber der Meister brauchte gar nichts zu tun. Kaum hatte ich das gesagt, lief mir ein Strom heißer salziger Tränen übers Gesicht. Ich holte tief Luft, sog mir die Lungen so voll, wie ich konnte, und fing dann hemmungslos zu kreischen an, um mir mein ganzes Elend aus dem Leib zu heulen. Als ich es halb heraushatte, war mein Hals ganz heiser und wie zugeschnürt, und mir drehte sich alles. Ich unterbrach mich, um noch einmal Luft zu holen, doch ehe ich wusste, wie mir geschah, fiel ich ohnmächtig um.

Danach war ich lange krank. Mein Körper hatte Feuer gefangen, das Fieber verzehrte mich, und es sah immer mehr so aus, als ob meine nächste Adresse der Friedhof wäre. Die ersten Tage lag ich völlig apathisch oben im Gästezimmer von Mrs. Witherspoons Haus, aber davon weiß ich nichts mehr. Auch an den Rücktransport und daran, was in den Wochen danach passiert ist, kann ich mich nicht erinnern. Nach dem, was sie mir erzählt haben, wäre ich ohne Mutter Sue – oder Mutter Sioux, wie ich sie schließlich bei mir nannte – erledigt gewesen. Rund um die Uhr saß sie an meinem Bett, wechselte Umschläge und flößte mir löffelweise zu trinken ein; dreimal täglich erhob sie sich von ihrem Stuhl und führte einen Tanz um mein Bett auf, wozu sie auf ihrer Oglala-Trommel einen besonderen Rhythmus schlug und Gebete an den Großen Manitou absang, in denen sie ihn anflehte, mit Wohlwollen auf mich herabzublicken und mich wieder gesund zu machen. Geschadet hat es mir offenbar nicht; einen Arzt haben sie jedenfalls nicht kommen lassen, und wenn man bedenkt, dass ich am Ende tatsächlich wieder ganz gesund geworden bin, ist es immerhin möglich, dass sie das mit ihrem Zauber geschafft hat.
    Keiner hat meiner Krankheit einen medizinischen Namen gegeben. Ich selbst meinte, ich hätte sie mir beim stundenlangen Herumirren im Sturm zugezogen, aber der Meister tat diese Erklärung als belanglos ab. Wie er es formulierte, war es der Schmerz des Seins, der mich früher oder später sowieso niedergestreckt hätte. Bevor ich zur nächsten Stufe meiner Ausbildung aufsteigen konnte, musste mein Körper erst von den Giften gereinigt werden, und unser zufälliges Wiedersehen in Wichita hatte bloß abgekürzt, was sich sonst vielleicht (mit endlosen Streitereien zwischen uns beiden) noch weitere sechs oder neun Monate hingezogen hätte. Die bedrückende Erkenntnis, dass ich nie über ihn triumphieren würde, hatte mich umgehauen, und dieser seelische Schlag war der Funke, der meine Krankheit auslöste. Danach war ich von der Erbitterung gereinigt, und als ich aus dem Albtraum meines Beinahe-Todes erwachte, hatte sich der Hass, der in mir gärte, in Liebe verwandelt. So weit der Meister.
    Ich will ihm nicht widersprechen, aber mir scheint meine Kehrtwendung wesentlich leichter zu erklären zu sein. Es könnte angefangen haben, kurz

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