Mr. Vertigo
nachdem mein Fieber zurückgegangen war, als ich aufwachte und Mutter Sioux mit verzücktem, seligem Lächeln neben mir sitzen sah. «Nein so was», sagte sie. «Meine kleine Walnuss ist wieder im Land der Lebenden.» In ihrer Stimme schwang so viel Freude mit, eine so offenkundige Sorge um mein Wohlergehen, dass etwas in mir zu schmelzen begann. «Alles klar, Schwester Ma», sagte ich und wusste selbst kaum, warum. «Ich hab doch bloß ’n bisschen geschlafen.» Dann schloss ich die Augen und sank in meine Betäubung zurück, bekam aber, während mir die Sinne schwanden, noch deutlich mit, wie mir Mutter Sioux’ Lippen über die Wange streiften. Es war der erste Kuss, den mir jemand gegeben hatte, seit meine Mutter gestorben war, und davon wurde mir so warm und wohl, dass es mir egal war, von wem er kam. Wenn diese dicke Indianersquaw mit mir schmusen wollte, bitte, warum nicht, ich würde sie nicht dran hindern.
Das war der erste Schritt, glaube ich, aber es kam noch mehr hinzu, nicht zuletzt ein Vorfall, der sich ein paar Tage später ereignete, als mein Fieber wieder gestiegen war. Ich wachte am frühen Nachmittag auf und sah niemanden im Zimmer. Schon wollte ich aus dem Bett kriechen und versuchen, den Nachttopf zu benutzen, schon hatte ich die Ohren aus dem Kissen gewühlt, als ich es vor der Tür flüstern hörte. Meister Yehudi und Äsop standen im Flur und sprachen gedämpft miteinander; ich konnte zwar nicht alles verstehen, bekam aber ungefähr mit, worum es ging. Äsop machte dem Meister Vorhaltungen, er wandte sich gegen den großen Mann und sagte ihm, er solle nicht so streng mit mir sein. Ich konnte es nicht fassen. Ich hatte ihm so viel Ärger und Verdruss bereitet, drum schämte ich mich furchtbar, als mir jetzt aufging, dass Äsop auf meiner Seite war. «Sie haben ihm die Seele ausgequetscht», flüsterte er. «Und jetzt liegt er da drin auf dem Sterbebett. Das ist nicht fair, Meister. Ich weiß, er ist ein Strolch, ein Halunke, aber im Innersten ist er mehr als nur ein Rebell. Ich habe es gespürt, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Und selbst wenn ich mich täusche, hat er nicht die Behandlung verdient, die Sie ihm angedeihen lassen. Niemand hat das verdient.»
Es war ein seltsames Gefühl, jemanden so für sich eintreten zu hören, aber noch seltsamer war, dass Äsops Predigt nicht auf taube Ohren traf. Noch am selben Abend kam Meister Yehudi, während ich mich im Dunkeln herumwälzte, zu mir ins Zimmer geschlichen, setzte sich auf das schweißgetränkte Bett und nahm meine Hand in seine. Während der ganzen Zeit, die er da war, ließ ich die Augen zu, gab keinen Mucks von mir und stellte mich schlafend. «Stirb mir nicht, Walt», sagte er leise, wie zu sich selbst. «Du bist ein zäher kleiner Racker, deine Zeit, den Geist aufzugeben, ist noch nicht gekommen. Wir haben große Dinge vor, wunderbare Dinge, von denen du dir gar nichts träumen lässt. Du glaubst vielleicht, ich bin gegen dich; aber das stimmt nicht. Es ist nur so, dass ich dich kenne, dass ich weiß, du kannst dem Druck standhalten. Du besitzt die Gabe, Kleiner, und ich werde dich weiter führen, als je ein Mensch gegangen ist. Hörst du mich, Walt? Ich sage dir, du sollst nicht sterben. Ich sage dir, ich brauche dich, und du darfst mir jetzt nicht sterben.»
Und ob ich ihn gehört habe. Laut und deutlich. Und obwohl die Versuchung, darauf zu antworten, groß war, bezwang ich den Wunsch und hielt den Mund. Dann folgte ein langes Schweigen. Meister Yehudi saß im Dunkeln und streichelte mir die Hand, und wenn ich mich nicht irre, wenn ich nicht eingenickt bin und das Nächste nur geträumt habe, hörte ich nach einer Weile, oder glaubte es jedenfalls zu hören, ein gebrochenes Schluchzen, ein kaum wahrnehmbares Stöhnen, das sich der Brust des großen Mannes entrang und die Stille im Zimmer zerriss – einmal, zweimal, ein Dutzend Mal.
Es wäre übertrieben zu sagen, dass ich meinen Argwohn auf der Stelle abgelegt hätte, aber natürlich begann sich meine Einstellung zu ändern. Ich hatte gelernt, dass Flucht sinnlos war, und da ich nun einmal, ob es mir gefiel oder nicht, in diesem Haus festsaß, beschloss ich, das Beste daraus zu machen. Vielleicht hatte auch meine Begegnung mit dem Tod damit zu tun, ich weiß es nicht, aber nachdem ich das Krankenlager verlassen hatte und wieder auf den Beinen war, hatten sich die Komplexe, die ich vorher mit mir rumgetragen hatte, verflüchtigt. Ich war so froh, wieder gesund zu sein,
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