Mr. Vertigo
weiter darüber nachgedacht. Für mich zählte nur, dass Mrs. Witherspoon da war und dass ihre Anwesenheit mich von meinem Job als Krankenschwester und Mädchen für alles erlöste. Sie nahm das alles gleich am ersten Vormittag selbst in die Hand, und in den nächsten drei Wochen lief der Haushalt so reibungslos wie ein Paar neuer Rollschuhe. Ehrlich gesagt, hatte ich ihr das nicht zugetraut, zumindest nicht, als ich ihren schicken Mantel und die kostspieligen Handschuhe sah. Sie machte den Eindruck, sie sei es gewöhnt, sich von Dienstboten aufwarten zu lassen, und obwohl sie auf eine gewisse zerbrechliche Weise recht hübsch war, war sie für meinen Geschmack zu blass und hatte zu wenig Fleisch auf den Knochen. Ich brauchte eine Weile, um mich auf sie einzustellen, denn sie passte in keine der mir bekannten Schubladen. Sie war keine Lebedame und kein Flittchen, sie war keine duldsame unscheinbare Hausfrau, sie war keine Schulmamsell und keine zänkische alte Jungfer – hatte aber irgendwie von jeder was, drum konnte man sie nie richtig einordnen oder ihre Reaktionen vorhersagen. Fest stand für mich nur eins, nämlich dass der Meister in sie verschossen war. Wenn sie ins Zimmer kam, wurde er immer ganz still und leise, und mehr als einmal ertappte ich ihn dabei, wie er sie, wenn sie das Gesicht von ihm abwandte, verträumt anstarrte. Da sie jede Nacht zusammen im selben Bett schliefen und da ich die Matratze mit einer gewissen Regelmäßigkeit quietschen und knarren hörte, musste ich davon ausgehen, dass sie für ihn die gleichen Gefühle hegte. Was ich nicht wusste, war, dass sie schon drei Heiratsanträge von ihm ausgeschlagen hatte – aber selbst wenn ich das gewusst hätte, es hätte nicht viel geändert. Ich hatte damals andere Dinge im Kopf, und die waren mir unendlich viel wichtiger als die Höhen und Tiefen im Liebesleben des Meisters.
Ich zog mich in diesen Wochen so weit wie möglich zurück, blieb auf meinem Zimmer und erforschte die ebenso geheimnisvollen wie furchterregenden Seiten meiner neuen Fähigkeit. Ich gab mir alle Mühe, sie unter Kontrolle zu bringen, mich damit anzufreunden, ihr genaues Ausmaß zu ermitteln und sie als wesentlichen Teil von mir anzunehmen. Ich kämpfte nicht bloß darum, diese Kunst zu beherrschen, sondern vor allem darum, ihre unheimlichen, ihre gewaltigen Konsequenzen zu verarbeiten: mich dieser Bestie in den Rachen zu werfen. Die Gabe wies mir ein besonderes Schicksal zu; ich würde mich für den Rest meines Lebens von den anderen Menschen unterscheiden. Man stelle sich vor, eines Morgens wacht man auf und stellt fest, dass man ein neues Gesicht hat, und dann stelle man sich vor, wie viele Stunden man vor dem Spiegel verbringen müsste, ehe man sich wieder halbwegs mit sich selbst wohl fühlen könnte. Ich schloss mich Tag für Tag in meinem Zimmer ein, streckte mich auf dem Boden aus und wünschte meinen Körper in die Luft. Ich übte so ausgiebig, dass ich schon bald nach Belieben aufschweben und binnen Sekunden vom Boden abheben konnte. Nach zwei Wochen hatte ich raus, dass ich mich dazu gar nicht auf den Boden zu legen brauchte. Wenn ich mich in die entsprechende Trance versetzte, konnte ich es auch im Stehen und schwebte dann in aufrechter Haltung gut zwei Handbreit über dem Boden. Drei Tage später lernte ich, mit offenen Augen aufzusteigen. Ich konnte tatsächlich nach unten blicken und meine Füße vom Boden abheben sehen, ohne dass es den Bann gebrochen hätte.
Inzwischen wirbelte das Leben der anderen um mich herum. Äsop wurde der Verband abgenommen, Mutter Sioux bekam einen Stock und lernte allmählich wieder herumzuhumpeln, der Meister und Mrs. Witherspoon brachten allnächtlich das Bett zum Tanzen und erfüllten das Haus mit ihrem Gestöhne. Bei all diesem Durcheinander war es nicht immer leicht, einen Vorwand zu finden, warum ich mich in meinem Zimmer einschließen wollte. Ein paarmal war ich mir sicher, dass mich der Meister durchschaute, dass er mein falsches Spiel mitbekam und bloß deshalb so nachsichtig war, weil er mich aus dem Weg haben wollte. Zu jeder anderen Zeit hätte es mich vor Eifersucht rasend gemacht, so geschnitten zu werden, zu spüren, dass ihm die Gesellschaft einer Frau lieber war als meine gediegene, einzigartige Gegenwart. Aber jetzt, da ich fliegen konnte, verlor Meister Yehudi in meinen Augen nach und nach seine göttlichen Eigenschaften, und ich fühlte mich von seinem Einfluss befreit. Ich sah bloß noch einen Menschen
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