Mr. Vertigo
dorthin, wo meine Stimme herkam, aber die Pupillen waren so glasig, dass ich zweifelte, ob er mich sehen konnte.
«Natürlich bin ich es», antwortete ich. «Wer soll denn sonst um diese Zeit hier neben dir sitzen?»
«Er wird mir den Finger abschneiden, Walt. Ich werde für immer entstellt sein, kein Mädchen wird mich mehr haben wollen.»
«Entstellt bist du längst, aber hindert dich das vielleicht, von Mösen zu träumen? Er will dir ja nicht den Schwanz abschneiden, Äsop. Bloß ’nen Finger, und dazu noch einen von der Linken. Solange dein Pimmel dranbleibt, kannst du Weiber pimpern, so viel du willst.»
«Der Finger soll aber nicht weg», stöhnte er. «Wenn ich den Finger verliere, heißt das, es gibt keine Gerechtigkeit. Und dass Gott sich von mir abgewandt hat.»
«Ich hab selber nur neuneinhalb Finger, und das stört mich nicht die Bohne. Wenn deiner erst mal ab ist, sind wir wie Zwillinge. Echte Mitglieder im Neun-Finger-Club, Brüder, bis wir ins Gras beißen – genau wie der Meister immer gesagt hat.»
Ich gab mir alle Mühe, ihn zu beruhigen, doch als die Operation anfing, wurde ich beiseitegeschoben und vergessen. Die Hände vorm Gesicht, stand ich in der Tür und spähte ab und zu durch die Finger, während der Meister und Mutter Sioux ihre Arbeit taten. Da sie weder Äther noch sonst ein Betäubungsmittel hatten, schrie Äsop wie am Spieß, ein entsetzliches, grauenhaftes Gebrüll, das von Anfang bis Ende nicht eine Sekunde nachließ. Sosehr ich mit ihm litt, dieses Geschrei hätte auch mich fast geschafft. Es war nicht mehr menschlich, es zeugte von einer so abgrundtiefen, so anhaltenden Angst, dass ich mich ziemlich bremsen musste, um nicht selber loszuschreien. Meister Yehudi ging mit der Seelenruhe eines geschulten Arztes vor, aber Mutter Sioux nahm das Geschrei nicht weniger mit als mich. Das hätte ich am wenigsten von ihr erwartet. Ich hatte immer gedacht, Indianer würden ihre Gefühle verbergen, sie wären tapferer und gleichmütiger als die Bleichgesichter, aber Mutter S. war wirklich vollkommen aus dem Häuschen, und während das Blut herumspritzte und Äsops Schmerzen immer größer wurden, keuchte und winselte sie, als würde das Messer sie selbst zerfleischen. Meister Yehudi meinte, sie solle sich zusammenreißen. Sie bat um Entschuldigung, aber fünfzehn Sekunden später fing sie schon wieder an zu schluchzen. Eine jämmerliche Krankenschwester, deren störendes Geflenne den Meister nach einer Weile so ablenkte, dass er sie aus dem Zimmer schickte. «Wir brauchen noch einen Eimer kochendes Wasser», sagte er. «Aber Tempo, Frau! Beeil dich!» Es war nur ein Vorwand, sie loszuwerden, und als sie an mir vorbei auf den Flur stürzte, hatte sie die Hände vorm Gesicht und rannte blindlings auf die Treppe zu. Was dann geschah, konnte ich in allen Einzelheiten beobachten: wie ihr Fuß an der obersten Stufe hängenblieb, wie sie das Gleichgewicht wiederzugewinnen versuchte, wie ihr Knie nachgab, wie sie kopfüber die Treppe hinunterflog – und dann das Rumpeln und Poltern, bis ihre gewaltige Masse unten mit einem Krach aufschlug, der das ganze Haus erschütterte. Sekunden später kreischte sie auf, griff sich ans linke Bein und begann sich am Boden zu winden. «Blödes altes Weib», schimpfte sie. «Blöde alte Zicke, jetzt sieh dir das an. Bist die Treppe runtergefallen und hast dir das verdammte Bein gebrochen.»
In den nächsten Wochen herrschte auf der Farm die reinste Krankenhausstimmung. Es galt zwei Kranke zu pflegen, der Meister und ich rannten den ganzen Tag lang die Treppe rauf und runter, brachten ihnen das Essen und leerten ihnen die Töpfe, und es fehlte nur, dass wir ihnen auch noch den Arsch abgewischt hätten. Äsop war völlig geknickt vor Selbstmitleid und Verzweiflung, Mutter Sioux überschüttete sich von morgens bis abends mit Vorwürfen. Dazu mussten die Tiere im Stall versorgt, die Zimmer geputzt, die Betten gemacht, das Geschirr gespült und Holz im Ofen nachgelegt werden, sodass dem Meister und mir nicht eine Minute für unsere eigene Arbeit übrig blieb. Weihnachten, der Termin, an dem ich vom Boden abheben sollte, rückte immer näher, und ich war den Gesetzen der Schwerkraft unterworfen wie eh und je. Für mich war das die finsterste Zeit seit über einem Jahr. Ich war zu einem normalen Bürger geworden, der seine Hausarbeiten machte, der lesen und schreiben konnte; und wenn das so weiterging, würde ich am Ende wohl auch noch einen Rhetorikkurs
Weitere Kostenlose Bücher