Mr. Vertigo
in ihm, der nicht besser oder schlechter war als andere, und wenn er sein Leben mit einer klapprigen Mieze aus Wichita verjubeln wollte, war das seine Sache. Er hatte sein Leben, und ich hatte meins, und so sollte es von jetzt an auch bleiben. Immerhin hatte ich mir das Fliegen beigebracht, oder jedenfalls so was Ähnliches wie Fliegen, und ich nahm an, dass ich damit mein eigener Herr geworden war, dass ich dafür keinem anderen als mir selbst zu danken hatte. Wie sich herausstellte, war ich bloß zur nächsten Stufe meiner Entwicklung aufgestiegen. Listig und verschlagen wie eh und je, war der Meister mir noch immer voraus, und ehe ich wirklich die Kanone wurde, für die ich mich jetzt schon hielt, hatte ich noch einen weiten Weg vor mir.
Äsop, dem das Fehlen seines Fingers schwer zu schaffen machte, war nur noch ein lustloser Schatten seiner selbst, und obwohl ich so viel Zeit wie möglich mit ihm verbrachte, war ich zu sehr mit meinen Experimenten beschäftigt, als dass ich ihm die Aufmerksamkeit hätte schenken können, die er brauchte. Da er mich ständig fragte, warum ich so oft und so lange allein in meinem Zimmer sei, nahm ich eines Morgens (es muss der fünfzehnte oder sechzehnte Dezember gewesen sein) zu einer kleinen Lüge Zuflucht, um seine Zweifel zu beschwichtigen. Er sollte nicht von mir denken, dass ich mir nichts mehr aus ihm machte, und wie die Dinge standen, kam mir Schwindeln immer noch besser vor als Schweigen.
«Es geht um ’ne Überraschung», sagte ich. «Wenn du mir versprichst, kein Wort zu verraten, geb ich dir ’nen Hinweis.»
Äsop musterte mich argwöhnisch. «Du hast mal wieder irgendwelche Dummheiten vor, stimmt’s?»
«Nein, ehrlich nicht. Was ich dir sagen will, ist völlig in Ordnung, ich weiß es aus erster Hand.»
«Du brauchst nicht so herumzudrucksen. Wenn du was zu sagen hast, dann rück schon raus damit.»
«Mach ich. Aber erst, wenn du’s mir versprochen hast.»
«Wenn das mal kein Trick ist. Ich verspreche nicht gern etwas ohne jeden Grund.»
«Ach was, kein Trick. Du kannst mir vertrauen.»
«Na gut!» Er verlor allmählich die Geduld. «Was ist es, kleiner Bruder?»
«Nimm die rechte Hand hoch und schwör, dass du’s keinem verrätst. Schwör beim Grab deiner Mutter. Schwör beim Weiß deiner Augen. Schwör bei den Mösen sämtlicher Nutten in Niggertown.»
Äsop seufzte, griff sich mit der linken Hand an die Eier – so pflegten wir beide uns heimliche Eide zu leisten – und hob die rechte. «Ich verspreche es», sagte er und wiederholte, was ich ihm vorgesprochen hatte.
«Gut», sagte ich und fing an zu improvisieren. «Folgendes. Nächste Woche ist Weihnachten, und wo wir jetzt Mrs. Witherspoon im Haus haben und so weiter, soll angeblich am fünfundzwanzigsten eine Feier stattfinden. Truthahn und Pudding, Geschenke, vielleicht sogar eine Tanne mit Spielzeug und Popcorn drauf. Und falls diese Party wirklich steigt, will ich nicht mit leeren Händen dastehn. Du weißt ja, wie das ist. Nicht sehr witzig, ein Geschenk zu kriegen, wenn man selbst nicht was zurückschenken kann. Und das mach ich also die ganze Zeit in meinem Zimmer. Ich arbeite an einem Geschenk, ich bastele die tollste und beste Überraschung zusammen, die mein armes kleine Hirn sich ausdenken kann. In ein paar Tagen zeig ich es dir, großer Bruder, und ich hoffe sehr, dass du dann nicht enttäuscht bist.»
Was ich über die Weihnachtsfeier gesagt hatte, stimmte durchaus. Ich hatte nachts durch die Wand mitbekommen, wie der Meister und seine Lady davon gesprochen hatten, aber bis dahin war es mir nicht eingefallen, irgendjemandem ein Geschenk zu machen. Jetzt, wo ich es mir in den Kopf gesetzt hatte, sah ich darin eine einmalige Gelegenheit, genau die Chance, auf die ich die ganze Zeit gewartet hatte. Wenn es ein Weihnachtsessen gab (und das hatte der Meister in dieser Nacht angekündigt), würde ich den Anlass nutzen, meine neue Fähigkeit vorzuführen. Das sollte mein Geschenk für sie alle sein. Ich würde aufstehen und mich vor ihren Augen in die Luft erheben, und damit wäre mein Geheimnis endlich aller Welt bekannt.
Die nächsten anderthalb Wochen waren die reinste Hölle. Meine Nummer für mich allein aufzuführen war eine Sache; aber wie konnte ich sicher sein, dass ich nicht auf die Nase fiel, wenn ich mich vor andere hinstellte? Wenn ich nun versagte – was für eine lächerliche Figur würde ich abgeben, wie würden sie in den nächsten siebenundzwanzig Jahren über mich
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