Mr. Vertigo
herziehen! Und dann begann der längste, der qualvollste Tag meines Lebens. Die Weihnachtsfete war in jeder Beziehung gelungen, ein echtes Festmahl in ausgelassenster Stimmung, aber ich habe mich kein bisschen dabei amüsiert. Vor Angst, daran zu ersticken, bekam ich den Truthahn kaum runter, und das Rübenpüree schmeckte wie eine Mischung aus Tapetenkleister und Schlamm. Als wir uns dann ins Wohnzimmer begaben, um Lieder zu singen und Geschenke auszutauschen, war ich kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Mrs. Witherspoon machte den Anfang, sie schenkte mir einen blauen Pullover, der vorne mit roten Rentieren bestickt war. Als Nächstes kam Mutter Sioux mit einem Paar selbstgestrickter karierter Socken, und dann gab mir der Meister das Porträt von Sir Walter Raleigh, das er aus dem Buch ausgeschnitten und in einen schicken Ebenholzrahmen gesteckt hatte. Alles sehr großzügige Geschenke, aber jedes Mal, wenn ich eins auswickelte, bekam ich nur ein kaum hörbares, finster hingemurmeltes Danke heraus. Denn mit jedem dieser Geschenke rückte der Augenblick der Wahrheit näher, und mit jedem verließ mich der Mut ein bisschen mehr. Ich sank auf einen Stuhl, und als ich das letzte Päckchen geöffnet hatte, war ich so gut wie entschlossen, die Vorführung zu streichen. Ich bin noch nicht so weit, sagte ich mir, ich brauche noch mehr Übung, und nach diesen Argumenten fiel es mir nicht mehr schwer, mir die Sache auszureden. Aber kaum glaubte ich meinen Arsch für immer auf diesem Stuhl festgeleimt zu haben, musste Äsop das Maul aufreißen und meine Welt zum Einsturz bringen.
«Jetzt ist Walt an der Reihe», sagte er in aller Unschuld, denn er betrachtete mich als einen, der sein Wort hielt. «Er hat da irgendwas in petto, und ich kann’s kaum erwarten, dass er endlich damit rausrückt.»
«Sehr richtig», sagte der Meister und durchbohrte mich mit seinem allwissenden Blick. «Der junge Mr. Rawley hat sich noch gar nicht vernehmen lassen.»
Ich saß in der Klemme. Irgendein anderes Geschenk hatte ich nicht, und wenn ich jetzt noch länger zögerte, würden sie mich für genau den undankbaren Egoisten halten, der ich war. Mir schlotterten die Knie, als ich aufstand und mit armselig dünner Stimme sagte: «Auf geht’s, meine Damen und Herren. Wenn es nicht klappt, könnt ihr nicht sagen, ich hätt’s nicht wenigstens versucht.»
Die vier sahen mich so neugierig an, so gespannt, so verblüfft und aufmerksam, dass ich lieber die Augen zumachte. Ich atmete langsam ein und wieder aus, nahm die Arme seitlich hoch, in einer lockeren Haltung, die ich stundenlang geübt hatte, und verfiel in Trance. Fast unmittelbar darauf begann ich zu schweben, sanft und ruhig hob ich ab, und als ich gut zwei Handbreit über dem Boden war – das Höchste, was ich in diesen ersten Monaten zu leisten vermochte –, schlug ich die Augen auf und betrachtete mein Publikum. Äsop und die beiden Frauen glotzten mit offenen Mündern, die drei identische kleine O bildeten. Der Meister freilich lächelte; er lächelte, und zugleich liefen ihm Tränen über die Wangen; und noch während ich da vor ihm schwebte, langte er bereits nach dem Lederriemen unter seinem Kragen. Als ich wieder abwärts sank, zog er das Halsband über den Kopf und hielt es mir auf der ausgestreckten Hand hin. Keiner sagte ein Wort. Ich ging auf ihn zu, durchquerte das Zimmer und wagte nicht, irgendwo anders hinzusehen als in seine Augen. Dann trat ich vor Meister Yehudi hin, nahm mein Fingerglied von ihm entgegen, fiel auf die Knie und verbarg mein Gesicht in seinem Schoß. So blieb ich fast eine Minute lang, und als ich endlich den Mut fand, wieder aufzustehen, rannte ich aus dem Zimmer in die Küche und weiter in die kalte Nacht hinaus – gierig nach Luft, gierig nach Leben unter dem endlosen Meer der Wintersterne.
Drei Tage später standen wir in der Küchentür und winkten Mrs. Witherspoon, die in ihrer smaragdgrünen Chrysler-Limousine davonfuhr. Das war 1927; in den ersten sechs Monaten dieses Jahres arbeitete ich mit verbissener Konzentration und kam Woche für Woche ein kleines Stück weiter. Meister Yehudi schärfte mir ein, dass Levitation erst der Anfang sei. Gewiss, es sei eine großartige Leistung, aber nichts, womit man Furore machen könne. Unzählige Leute besäßen die Fähigkeit, vom Boden abzuheben, und selbst wenn man die indischen Fakire, die tibetanischen Mönche und die kongolesischen Medizinmänner außer Acht lasse, blieben noch jede Menge
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