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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Walt?», fuhr der Meister fort. «Bist du etwa unter die Schlafwandler gegangen?»
    «Nein, Meister. Nichts dergleichen.»
    «Warum dann so niedergeschlagen? Du siehst aus, als kämst du von einer Beerdigung.»
    Als er das sagte, stieg eine ungeheure Trauer in mir hoch, und plötzlich fühlte ich mich den Tränen nahe. «Ach, Meister», sagte ich, indem ich mit beiden Armen sein Bein umschlang und meine Wange an sein Schienbein drückte. «Ach, Meister, ich dachte, Sie hätten mich im Stich gelassen. Ich dachte, Sie hätten mich verlassen und würden nie mehr wiederkommen.»
    Kaum waren mir diese Worte von der Zunge, merkte ich, dass ich mich getäuscht hatte. Nicht der Meister, sondern das, was ich vor dem Einschlafen erlebt hatte, war für dieses Gefühl der Wehrlosigkeit und Verzweiflung verantwortlich. Grell und schwindelerregend tauchte es wieder vor mir auf: die Zeitspanne, die ich in der Luft geschwebt hatte; die Gewissheit, etwas absolut Unmögliches getan zu haben. Aber dieser Durchbruch erfüllte mich keineswegs mit Freude und Begeisterung, sondern machte mir schreckliche Angst. Ich kannte mich selbst nicht mehr. In mir lebte etwas, das nicht zu mir gehörte, und dieses Etwas war so furchterregend, so fremd in seiner Neuheit, dass ich es nicht fertigbrachte, darüber zu reden. Stattdessen ließ ich den Tränen jetzt freien Lauf. Und nachdem ich erst zu weinen angefangen hatte, war ich mir nicht sicher, ob ich je wieder würde aufhören können.
    «Du lieber Junge», sagte der Meister, «mein lieber kleiner Junge.» Er ließ sich auf den Boden nieder und nahm mich in die Arme, klopfte mir auf den Rücken und hielt mich weinendes Bündel fest. Bald hörte ich ihn wieder sprechen – doch waren seine Worte nicht an mich gerichtet. Zum ersten Mal, seit ich das Bewusstsein wiedererlangt hatte, begriff ich, dass noch jemand anders im Zimmer war.
    «Er ist der tapferste Junge aller Zeiten», sagte der Meister. «Er hat sehr hart gearbeitet, und jetzt ist er völlig erschöpft. Jeder Körper erträgt nur ein bestimmtes Maß, und ich fürchte, der Ärmste hat sich überanstrengt.»
    Nun blickte ich endlich auf. Ich hob den Kopf aus des Meisters Schoß, sah mich kurz um und erkannte im hellen Türrahmen Mrs. Witherspoon. Sie trug einen purpurroten Mantel und eine schwarze Pelzmütze, erinnere ich mich, und ihre Wangen waren noch gerötet von der winterlichen Kälte. Als unsere Blicke sich begegneten, lächelte sie mich an.
    «Hallo, Walt», sagte sie.
    «Ah, hallo, Ma’am», sagte ich, die letzten Tränen hochschniefend.
    «Ich möchte dich mit deiner guten Fee bekannt machen», sagte der Meister. «Mrs. Witherspoon ist gekommen, um uns zu helfen. Sie wird eine Weile bei uns wohnen. Bis wieder Normalität eingekehrt ist.»
    «Sie sind die Frau aus Wichita, stimmt’s?», sagte ich, als mir aufging, warum mir ihr Gesicht so bekannt vorkam.
    «Richtig», sagte sie. «Und du bist der kleine Junge, der sich im Sturm verlaufen hat.»
    «Das ist lange her», sagte ich, indem ich mich aus den Armen des Meisters befreite und aufstand. «Ich kann mich kaum noch dran erinnern.»
    «Sicher, wie solltest du auch. Aber ich erinnere mich.»
    «Mrs. Witherspoon ist nicht nur eine Freundin der Familie», sagte der Meister, «sondern auch unsere Gönnerin und Geschäftspartnerin Nummer eins. Nur damit du Bescheid weißt, Walt. Denk bitte immer daran, solange sie bei uns ist. Das Essen, das dich nährt, die Kleider, die dich bedecken, das Feuer, das dich wärmt – all das haben wir der Güte von Mrs. Witherspoon zu verdanken, und es wäre traurig, wenn du das jemals vergessen solltest.»
    «Keine Sorge», sagte ich. In meiner Seele ging plötzlich die Sonne auf. «Ich bin doch kein Stoffel. Ich weiß, wie ein Gentleman sich zu benehmen hat, wenn eine schöne Dame das Haus betritt.»
    Im gleichen Atemzug wandte ich den Blick in Mrs. Witherspoons Richtung und zwinkerte ihr mit aller Grazie und Bravour, deren ich fähig war, so lächerlich aufreizend zu, wie noch keine Frau es je erlebt haben dürfte. Es sprach für sie, dass sie weder rot wurde noch ins Stammeln geriet, sondern es mir mit gleicher Münze heimzahlte: Sie stieß ein kurzes Lachen aus und zwinkerte dann, kühl und gelassen wie eine alte Puffmutter, schelmisch zurück. Ich denke noch heute gern daran, denn im selben Augenblick war mir klar, dass wir Freunde werden würden.
    Ich hatte keine Ahnung, was der Meister mit ihr verabredet hatte, und habe damals auch nicht

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