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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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mitmachen und zu den Pfadfindern gehen.
    Eines Morgens wachte ich ein bisschen früher auf als gewöhnlich. Ich schaute bei Äsop und Mutter Sioux rein, sah, dass sie noch schliefen, und ging auf Zehenspitzen die Treppe runter, denn ich wollte den Meister mit meinem frühen Aufstehen überraschen. Normalerweise wäre er zu dieser Zeit unten in der Küche gewesen, um das Frühstück zu machen und den Tag vorzubereiten. Aber da wehte kein Kaffeeduft vom Herd, kein Speck brutzelte in der Pfanne, und als ich eintrat, war denn auch keiner da. Er ist im Stall, sagte ich mir, er holt Eier oder melkt eine Kuh; aber dann sah ich, dass der Ofen noch gar nicht an war. Feuermachen war im Winter der erste Punkt der Tagesordnung, und hier unten war es so kalt, dass ich beim Ausatmen jedes Mal eine Dampfwolke ausstieß. Na ja, sprach ich weiter mit mir selbst, vielleicht ist der Alte bloß erschöpft und will seinen Schönheitsschlaf nachholen. Das wär doch wirklich mal was Neues, wie? Dass ich ihn aus dem Bett schmeißen muss, anstatt umgekehrt. Also ging ich wieder nach oben und klopfte an seine Schlafzimmertür, und als nach mehreren Versuchen keine Antwort kam, machte ich die Tür auf und stieg behutsam über die Schwelle. Von Meister Yehudi keine Spur. Er lag nicht nur nicht in seinem Bett, sondern das Bett selbst war ordentlich gemacht und sah ganz und gar nicht so aus, als ob er in der Nacht darin geschlafen hätte. Er hat uns im Stich gelassen, dachte ich. Er ist getürmt, auf und davon, den haben wir zum letzten Mal gesehen.
    Während der nächsten Stunde jagten sich verzweifelte Gedanken in meinem Kopf. Ich war hin- und hergerissen zwischen Sorge und Wut, Kampfbereitschaft und Lachen, zorniger Trauer und übler Selbstverhöhnung. Die Welt war in Rauch aufgegangen, und ich musste in der Asche weiterleben, für immer allein in den schwelenden Ruinen des Verrats.
    Mutter Sioux und Äsop schliefen weiter in ihren Betten, sie wussten nichts von meinem Zetern und Heulen. Irgendwie (ich weiß nicht mehr, wie ich dort hingekommen bin) war ich plötzlich wieder in der Küche: auf dem Bauch, das Gesicht am Boden, die Nase gegen die schmutzigen Dielen gepresst. Tränen hatte ich keine mehr – nur noch ein trockenes, ersticktes Würgen, nur noch Schluckauf und dürre, luftlose Atemstöße. Bald darauf wurde ich still, fast heiter; ich fühlte, wie sich eine Gelassenheit in mir ausbreitete, die mir nach und nach durch die Muskeln bis in Fingerspitzen und Zehen strömte. In meinem Kopf waren keine Gedanken mehr, in meinem Herzen keine Gefühle. Ich war schwerelos in meinem Körper, trieb auf einer friedlichen See des Nichtseins, vollkommen losgelöst, vollkommen gleichgültig gegen die Welt um mich her. Und da habe ich es zum ersten Mal getan – ohne Vorwarnung, ohne die leiseste Ahnung, dass es nun passieren würde. Ganz langsam hob sich mein Körper vom Boden. Die Bewegung war sehr natürlich, sehr zart in ihrer Sachtheit, und so merkte ich erst, als ich die Augen aufmachte, dass meine Gliedmaßen nur noch von Luft umgeben waren. Ich war nicht weit vom Boden – höchstens ungefähr eine Handbreit –, aber dort hielt ich mich ohne Mühe; ich hing, reglos treibend, wie der Mond am nächtlichen Himmel und spürte nichts anderes als den bebenden Atem in meinen Lungen. Wie lange ich dort so geschwebt habe, kann ich nicht sagen, aber irgendwann bin ich, ebenso langsam und sanft wie zuvor, auf den Boden zurückgesunken. Inzwischen war ich völlig ausgepumpt, die Augen waren mir schon zugefallen. Und ohne einen einzigen Gedanken an das, was da mit mir passiert war, sank ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf, wie ein Stein, der zum Mittelpunkt der Erde fällt.
    Dann weckten mich Stimmen, das Schlurfen von Schuhen auf dem nackten Holzboden. Als ich die Augen aufschlug, blickte ich auf etwas Schwarzes: das linke Hosenbein von Meister Yehudi. «Sei gegrüßt, Junge», sagte er und stieß mich sachte mit dem Fuß an. «Eine Mütze Schlaf auf dem kalten Küchenboden. Nicht gerade der beste Ort für ein Nickerchen, falls du Wert darauf legst, gesund zu bleiben.»
    Ich versuchte mich aufzurichten, aber meine Glieder fühlten sich so betäubt und geschwollen an, dass ich meine ganze Kraft zusammennehmen musste, um mich auch nur auf dem Ellenbogen aufzustützen. In meinem Kopf waberte ein Knäuel Spinnweben, und ich konnte mir die Augen reiben und zwinkern, wie ich wollte, ich bekam sie einfach nicht scharfgestellt.
    «Was hast du denn,

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