Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Beispiele aus den sogenannten zivilisierten Nationen, aus Nordamerika und den Ländern Europas. Allein in Ungarn, meinte der Meister, habe es um die Jahrhundertwende fünf aktive Levitatoren gegeben, drei davon in seiner Heimatstadt Budapest. Es sei eine wunderbare Fähigkeit, aber das Interesse des Publikums erlahme rasch, und wer nicht mehr zu bieten habe, als ein paar Zoll über dem Boden herumzuschweben, könne daraus niemals eine einträgliche Karriere machen. Schwindler und Scharlatane, Trickbetrüger, die bloß auf das schnelle Geld aus seien, hätten die Kunst der Levitation besudelt, und selbst noch die lahmsten, billigsten Varietézauberer hätten die Nummer mit der schwebenden Jungfrau drauf: Eine kesse Biene hängt im knappen Glitzerkostüm in der Luft, und man streicht ihr mit einem Reifen (Seht: keine Seile, keine Drähte) vom Kopf bis zu den Zehen den ganzen Leib entlang. So was gehöre zum Standardrepertoire, und damit seien die echten Levitatoren aus dem Geschäft gedrängt. Jedermann wisse, dass es ein Trick sei, und er sei so weit verbreitet, dass ein Publikum, dem eine echte Levitation vorgeführt werde, auch die bloß für Schwindel halte.
    «Es gibt nur zwei Möglichkeiten, die Aufmerksamkeit der Leute zu gewinnen», sagte der Meister. «Mit jeder können wir es zu Wohlstand bringen, aber wenn es dir gelingt, die beiden zu einer einzigen Nummer zu verbinden, sind uns keine Grenzen gesetzt. Dann wäre keine Bank der Welt groß genug, das Geld zu verwahren, das wir dann scheffeln würden.»
    «Zwei Möglichkeiten», sagte ich. «Gehören die noch zu den dreiunddreißig Stufen, oder haben wir die schon hinter uns?»
    «Die haben wir hinter uns. Du bist jetzt so weit wie ich, als ich in deinem Alter war; von nun an dringen wir in unbekanntes Gelände vor, in Kontinente, die noch niemand gesehen hat. Ich kann dir mit Rat und Belehrung zur Seite stehen, ich kann dich lenken, wenn du vom Weg abgekommen bist, aber all die entscheidenden Dinge wirst du selbst herausfinden müssen. Wir sind am Scheideweg angelangt, von nun an liegt alles bei dir.»
    «Erzählen Sie mir von den zwei Möglichkeiten. Verklickern Sie mir die ganze Chose, dann werden wir ja sehen, ob ich das draufhabe oder nicht.»
    «Schweben und Schwingen – das sind die zwei Möglichkeiten. Unter Schweben verstehe ich, dass du in die Luft aufsteigst. Nicht bloß zwei Handbreit hoch, sondern einen Meter, zwei Meter, sechs Meter. Je höher, desto spektakulärer. Ein Meter ist ganz nett, wird aber dem Publikum nicht die Sprache verschlagen. Damit hebst du dich nur wenig über die Augenhöhe der meisten Erwachsenen, und das wird auf die Dauer zu wenig sein. Bei zwei Metern schwebst du über ihren Köpfen, und wenn sie erst einmal zu dir aufblicken müssen, ist der von uns gewünschte Eindruck erzielt. Bei drei Metern wird es schon übernatürlich wirken. Bei sechs Metern bist du ein Engel, Walt, ein Wunderwesen, eine Lichtgestalt, und erfreust die Herzen aller Männer, Frauen und Kinder, die zu dir aufschauen.»
    «Da krieg ich ja ’ne Gänsehaut. Mir zittern alle Knochen im Leib, wenn Sie so reden.»
    «Schweben ist aber nur die eine Hälfte, Kleiner. Bevor du in Verzückung gerätst, denk erst einmal über das Schwingen nach. Darunter verstehe ich, dass du dich durch die Luft bewegst. Vorwärts und rückwärts, je nach den Umständen, am besten aber beides. Geschwindigkeit ist nicht so wichtig; entscheidend ist die Dauer, nur darauf kommt es an. Denk dir das Schauspiel, zehn Sekunden lang durch die Luft zu gleiten. Da bleibt den Leuten die Spucke weg. Sie werden ungläubig auf dich zeigen, aber das Wunder wird vorbei sein, ehe sie verarbeiten können, was sie da mit eigenen Augen sehen. Nun verlängere die Vorstellung auf eine halbe, eine ganze Minute. Da fühlst du dich noch besser, nicht? Die Seele dehnt sich aus, das Blut fließt dir frischer durch die Adern. Nun verlängere den Flug auf fünf Minuten, auf zehn Minuten, und stell dir vor, du fliegst Achten und machst Pirouetten, unermüdlich und frei, und fünfzigtausend Augenpaare verfolgen deine Kunststücke über dem Rasen der Polo Grounds in New York City. Versuch es dir vorzustellen, Walt, und du wirst sehen, was ich in all den Monaten und Jahren gesehen habe.»
    «Bei Gott, Meister Yehudi, ich glaub, das halt ich nicht aus.»
    «Warte noch, Walt, warte noch einen Augenblick. Nimm doch einfach einmal an, du wärst durch irgendeinen ungeheuren Glücksfall in der Lage, diese beiden

Weitere Kostenlose Bücher