Mr. Vertigo
bevor ich in ihr Leben getreten war. Jetzt hatte ich plötzlich das heftige Bedürfnis, über jeden Einzelnen von ihnen zu erfahren, was es nur zu erfahren gab. Das kam wohl daher, dass ich sie sehr vermisste – vor allem Äsop und den Meister, aber auch Mrs. Witherspoon. Ich hätte sie gern in der Nähe gehabt; seit ihrer Abreise war es viel langweiliger im Haus. Mit meinen Fragen holte ich sie mir zurück, und je mehr Mutter Sioux von ihnen erzählte, desto weniger einsam fühlte ich mich.
Aber sosehr ich auch drängte und nörgelte – tagsüber bekam ich nicht viel aus ihr heraus. Ab und zu eine Anekdote, ein paar lose Fäden, vage Andeutungen. Die Abende waren günstiger zum Reden: Wie sehr ich auch quengeln mochte, vor dem Abendessen machte sie nur selten den Mund auf. Mutter Sioux war eine verschlossene Frau, der nichts daran lag, ihre Zeit mit leerem Gerede zu vergeuden, aber wenn sie mal in Stimmung kam, erzählte sie gar nicht so übel. Ihr Vortrag war eintönig und nicht gerade anschaulich, aber sie hatte ein besonderes Talent, immer wieder mitten im Satz oder Gedanken innezuhalten, und mit diesen kleinen Pausen erzielte sie ziemlich verblüffende Wirkungen. Das gab einem die Möglichkeit, nachzudenken, die Geschichte selber auszuspinnen, und wenn sie dann wieder anfing, stellte man fest, dass man alle möglichen lebhaften Bilder im Kopf hatte, die vorher nicht da gewesen waren.
Eines Abends führte sie mich aus mir unbegreiflichen Gründen in ihr Zimmer im ersten Stock. Sie meinte, ich solle mich aufs Bett setzen, und als ich es mir bequem gemacht hatte, ging sie in eine Ecke und klappte den Deckel einer ramponierten Truhe auf. Ich hatte immer gedacht, darin sei ihr Bettzeug, nun aber zeigte sich, dass sie mit Sachen aus ihrer Vergangenheit vollgestopft war: Fotografien und Rosenkränze, Mokassins und Kleider aus ungegerbtem Leder, Pfeilspitzen, Zeitungsausschnitte und gepresste Blumen. Eins nach dem andern trug sie diese Andenken zum Bett, setzte sich neben mich und erklärte mir ihre Bedeutung. Es stimmte also wirklich, dass sie für Buffalo Bill gearbeitet hatte, und als ich mir die alten Bilder ansah, bemerkte ich erstaunt, wie schön sie damals gewesen war – kess und schlank, mit makellos weißen Zähnen und zwei langen, reizenden Zöpfen. Sie war eine richtige indianische Prinzessin gewesen, eine Traumsquaw wie aus dem Film, und es fiel mir schwer, dieses niedliche kleine Ding und die fette humpelnde Matrone, die uns den Haushalt führte, miteinander in Einklang zu bringen und zu akzeptieren, dass sie ein und dieselbe Person waren. Das Ganze fing an, als sie sechzehn war, erzählte sie, auf dem Höhepunkt der Geistertanz-Mode, die Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bei den Indianern um sich griff. Das waren schlechte Zeiten, Jahre, in denen das Ende der Welt bevorstand, und die Roten sahen in der Magie den einzigen Weg, sich vor dem Untergang zu retten. Die Kavallerie rückte von allen Seiten gegen sie an, vertrieb sie von den Prärien in kleine Reservate, und die Blauröcke waren zu zahlreich, als dass Gegenwehr einen Sinn gehabt hätte. Der Geistertanz war das letzte Mittel der Auflehnung: Man zappelte und schüttelte sich bis zur Raserei, sprang und hüpfte wie die Holy Rollers und andere Spinner, die in Zungen stammeln. In diesem Zustand entfloh man seinem Körper, und die Kugeln der Weißen konnten einen nicht mehr treffen, nicht mehr töten, nicht mehr zur Ader lassen. Der Tanz wurde so populär, dass sich schließlich sogar Sitting Bull mit den Tänzern zusammentat. Die amerikanische Armee fürchtete einen Aufstand und befahl Mutter Sioux’ Großonkel, damit aufzuhören. Aber der Alte sagte bloß, sie könnten ihn mal, er könne in seinem Wigwam so viel tanzen, wie er wolle, und wie sie überhaupt dazu kämen, sich in seine Privatangelegenheiten einzumischen? Darauf gab der Blaurock-General (ich glaube, er hieß Miles oder Niles) Buffalo Bill den Auftrag, mit dem Häuptling zu verhandeln. Sie waren noch Freunde aus der Zeit, als Sitting Bull in der Wildwest-Show mitgewirkt hatte, und Cody war so ziemlich das einzige Bleichgesicht, dem er traute. Bill, ein guter Soldat, marschierte also brav mit zu dem Reservat in South Dakota, aber kaum war er dort angekommen, änderte der General seine Meinung und verbot ihm gradezu, sich mit Sitting Bull zu treffen. Begreiflicherweise war Bill sauer. Als er aber grade wütend davonreiten wollte, erblickte er die junge Mutter Sioux
Weitere Kostenlose Bücher