Mr. Vertigo
Kapitalanlagen, Aktien, Firmenbeteiligungen und andere Geschäfte zu investieren. Zu der Zeit, als sie Witwe wurde, trugen diese Transaktionen schon enorme Früchte: Ihr ursprünglicher Einsatz hatte sich vervierfacht, und mit diesem netten kleinen Vermögen in der Tasche konnte sie essen, trinken und lustig sein, so viel sie wollte. Und was ist mit Meister Yehudi?, fragte ich. Er hat sie doch regelrecht bei diesem Pokerspiel gewonnen, und wenn Mrs. Witherspoon ihm gehört, warum sind sie dann nicht verheiratet? Warum ist sie nicht hier bei uns, stopft seine Socken, kocht ihm das Essen und kriegt Kinder von ihm?
Mutter Sioux schüttelte bedächtig den Kopf. «Die Welt ist nicht mehr die alte», sagte sie. «Es gibt heute keine Leibeigenen mehr. Frauen sind keine Sklavinnen, die von Männern gekauft und verkauft werden können, und schon gar nicht eine so moderne Frau wie Mrs. Witherspoon. Sie lieben und hassen, sie kämpfen und schmusen, sie begehren und verweigern, und im Lauf der Zeit machen sie den anderen immer abhängiger. Alles bloß Show, Backe-backe-Kuchen, alles Zirkus und Theater, und sie lassen nicht ab davon, bis ihr letztes Stündlein geschlagen hat.»
Diese Geschichten gaben mir in einsamen Stunden viel Stoff zum Grübeln, aber je mehr ich darüber nachdachte, was Mutter Sioux mir erzählt hatte, desto ungereimter und verwirrender wurde das Ganze. Ich wurde es leid, den Feinheiten solch komplizierter Sachverhalte nachzuspüren, und irgendwann gab ich es auf: Ich sagte mir, ich bekäme noch mal einen Kurzschluss im Gehirn, wenn ich weiter so rumrätselte. Erwachsene waren unergründliche Wesen, und ich gelobte mir, falls ich selbst einer werden sollte, würde ich meinem alten Ich einen Brief schreiben und ihm erklären, warum sie so sind – aber vorläufig hatte ich genug davon. Ich fühlte mich erleichtert, gradezu befreit, doch kaum hatte ich diese Grübeleien aufgegeben, wurde mir die Zeit so lang, so zermürbend in ihrer nichtssagenden, federleichten Eintönigkeit, dass ich mich schließlich wieder an die Arbeit machte: nicht, weil ich es wollte, sondern bloß, weil mir nichts anderes einfiel, womit ich die Zeit hätte ausfüllen können.
Ich schloss mich wieder in meinem Zimmer ein, und nach drei Tagen vergeblicher Anstrengungen kam ich dahinter, was ich bis jetzt falsch gemacht hatte. Meine ganze Methode war falsch. Irgendwie hatte ich mir in den Kopf gesetzt, Schweben und Schwingen sei nur über ein zweistufiges Verfahren zu erreichen. Ich hatte das eine geübt und mir vorgestellt, das andere durch Übertragung auf das Erste lernen zu können. Tatsächlich aber setzte das Zweite das Erste außer Kraft. Immer wieder erhob ich mich nach der alten Methode in die Luft, aber sobald ich daran dachte, mich vorwärtszubewegen, sank ich auf den Boden zurück und landete, bevor ich überhaupt losfliegen konnte, wieder auf den Füßen. Das schlug einmal fehl, und es schlug tausendmal fehl, und nach einer Weile war ich meiner Unfähigkeit so überdrüssig und geriet in eine solche Wut, dass ich mich auf den Boden warf und mit den Fäusten drauf herumhämmerte. Schließlich, noch immer kochend vor Zorn und Enttäuschung, stand ich auf, rannte los und sprang, um mir das Bewusstsein aus dem Kopf zu schmettern, an die Wand. Ich sprang, und da, kurz bevor meine Schulter gegen den Putz krachte, spürte ich für den winzigen Bruchteil einer Sekunde, dass ich schwebte – dass ich mich schon beim Anlauf aus dem Griff der Schwerkraft gelöst hatte und dann, nachdem ich abgesprungen war, mit vertrautem Schwung nach oben stieg. Noch ehe ich begriff, was da geschah, war ich auch schon von der Wand abgeprallt und krümmte mich vor Schmerzen auf dem Boden. Meine ganze linke Seite dröhnte von dem Aufprall, aber das war mir schnuppe. Ich sprang wieder auf die Füße, tänzelte im Zimmer herum und lachte erst mal zwanzig Minuten, bis mir der Bauch weh tat. Ich hatte das Rätsel geknackt. Jetzt war alles klar. Vergiss die rechten Winkel, sagte ich mir. Denk in Bögen, in Flugbahnen. Es ging gar nicht drum, zuerst aufzusteigen und dann loszufliegen, sondern es ging drum, Aufstieg und Flug gleichzeitig zu beginnen, mich mit einer einzigen fließenden, ununterbrochenen Bewegung der großen Leere in die Arme zu werfen.
Die nächsten achtzehn, zwanzig Tage arbeitete ich wie ein Berserker, übte mich in dieser neuen Technik, bis sie mir in Fleisch und Blut übergegangen war, eine Reflexhandlung, die kein bisschen
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