Mr. Vertigo
(damals hieß sie noch «Lächelt wie die Sonne») und verpflichtete sie für seine Zirkustruppe. Damit war die Reise wenigstens nicht ganz umsonst gewesen. Mutter Sioux hat das wahrscheinlich das Leben gerettet. Ein paar Tage nach ihrem Aufbruch in die Welt des Showbusiness wurde Sitting Bull bei einem Handgemenge mit Soldaten, die ihn gefangen hielten, ermordet, und kurz darauf kam es zu der sogenannten Schlacht am Wounded Knee, die keine Schlacht, sondern ein Blutbad war, ein Massenmord an Unschuldigen, bei dem dreihundert Frauen, Kinder und alte Männer von einem Kavallerieregiment abgeschlachtet wurden.
Mutter Sioux hatte Tränen in den Augen, als sie davon erzählte. «Custers Rache», murmelte sie. «Ich war zwei Jahre alt, als Crazy Horse ihn mit Pfeilen vollpumpte, und als ich sechzehn war, war nichts mehr übrig.»
«Äsop hat mir das mal erklärt», sagte ich. «Ich krieg’s nicht mehr ganz zusammen, aber jedenfalls meint er, wenn man den Weißen mit den Indianern freie Hand gelassen hätte, hätten sie keine schwarzen Sklaven aus Afrika geholt. Er sagt, eigentlich wollten sie die Rothäute zu Sklaven machen, aber der katholische Obermacker habe ihnen die Tour vermasselt. Drum sind die Piraten dann eben nach Afrika gefahren, haben einen Haufen Schwarze zusammengetrieben und in Ketten rübergebracht. So hat’s Äsop mir erzählt, und ich hab ihn noch nie bei einer Lüge ertappt. Die Indianer sollten also gut behandelt werden. Leben und leben lassen, genau das Zeug, wovon der Meister dauernd faselt.»
«Sollten», wiederholte Mutter Sioux. «Aber ‹sollten› heißt noch lange nicht ‹wird gemacht›.»
«Da ist was dran, Ma. Wenn man bloß redet und nicht auch was tut, kann man alles Mögliche versprechen, und es ist doch bloß ein Haufen heiße Luft.»
Jetzt holte sie erst mal noch mehr Fotos, und dann zeigte sie mir die Theaterprogramme, Plakate und Zeitungsausschnitte. Mutter Sioux war praktisch schon überall gewesen, nicht bloß in Amerika und Kanada, sondern auch auf der anderen Seite des Ozeans. Sie war vor dem englischen Königspaar aufgetreten, sie hatte dem Zaren von Russland ein Autogramm gegeben, sie hatte mit Sarah Bernhardt Champagner getrunken. Nachdem sie fünf, sechs Jahre mit Buffalo Bill auf Tournee gewesen war, heiratete sie einen Iren; er hieß Ted und war Jockey, ein kleiner Mann, der auf den britischen Inseln an Hindernisrennen teilnahm. Sie hatten eine Tochter, Daffodil, ein kleines Häuschen mit blauen Winden und rosa Kletterrosen im Garten und lebten sieben Jahre lang wie im siebten Himmel. Dann schlug das Verhängnis zu. Ted und Daffodil kamen bei einem Zugunglück ums Leben, und Mutter Sioux ging mit gebrochenem Herzen nach Amerika zurück. Sie heiratete einen Rohrleger, der ebenfalls Ted hieß; aber im Gegensatz zu Ted eins war Ted zwei ein Säufer und Grobian, und wenn Mutter Sioux ihr neues Leben mit dem alten verglich, wurde sie immer so traurig, dass sie allmählich selbst zu trinken anfing. Sie hausten zusammen in einer Hütte aus Teerpappe am Stadtrand von Memphis, Tennessee, und wenn nicht plötzlich und vollkommen zufällig eines Morgens im Sommer 1912 Meister Yehudi in ihrer Straße aufgetaucht wäre, hätte Mutter Sioux bestimmt früh den Löffel abgegeben. Er kam dort mit dem kleinen Äsop im Arm vorbei (bloß zwei Tage nachdem er ihn aus dem Baumwollfeld gerettet hatte) und hörte auf einmal lautes Geschrei und Gezeter aus der Bruchbude, die Mutter Sioux ihr Zuhause nannte. Ted zwei hatte grade angefangen, sie mit seinen behaarten Fäusten zu bearbeiten, und ihr schon ein halbes Dutzend Zähne ausgeschlagen, als Meister Yehudi, der sich nie vor Schwierigkeiten drückte, in die Hütte trat, das verkrüppelte Kind behutsam auf den Boden legte und der Prügelei ein Ende machte: Er schlich sich hinter Ted zwei, klemmte dem Rüpel Daumen und Mittelfinger um den Hals und drückte einfach so fest zu, dass er aus den Pantinen kippte. Dann wusch der Meister Mutter Sioux das Blut von den Lippen, half ihr hoch und sah sich in dem verwahrlosten Zimmer um. Er brauchte keine zwölf Sekunden, um einen Entschluss zu fassen. «Ich mache Ihnen einen Vorschlag», sagte er zu der übel zugerichteten Frau. «Lassen Sie diese Laus da liegen und kommen Sie mit mir. Ich habe einen rachitischen Jungen, der eine Mutter braucht, und wenn Sie sich um ihn kümmern wollen, werde ich mich um Sie kümmern. Ich halte mich nirgendwo sehr lange auf, das heißt, Sie werden Gefallen am Reisen
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