Mr. Vertigo
finden müssen, aber ich verspreche Ihnen bei der Seele meines Vaters, dass ich Sie und das Kind niemals hungern lassen werde.»
Der Meister war damals neunundzwanzig, ein wahrer Adonis mit gewichstem Schnauzbart und tadellos gebundener Krawatte. An dem Morgen tat Mutter Sioux sich mit ihm zusammen, und in den nächsten fünfzehn Jahren ging sie mit ihm durch dick und dünn. Äsop zog sie auf wie einen eigenen Sohn. Ich kann mich nicht an alle Orte erinnern, von denen sie erzählt hat, aber die besten Geschichten spielten fast immer in der Gegend von Chicago, einer Stadt, die sie häufig besuchten. Mrs. Witherspoon stammte daher, und immer wenn Mutter Sioux auf dieses Thema zu sprechen kam, begann sich mir der Kopf zu drehen. Sie klärte mich nur in den gröbsten Umrissen auf, aber schon die nackten Tatsachen waren so eigenartig, so seltsam theatralisch, dass ich sie mir binnen kurzem zu einem ausgewachsenen Drama ausschmückte. Marion Witherspoon hatte mit zwanzig oder einundzwanzig geheiratet. Ihr Mann, Sohn einer wohlhabenden Familie aus Wichita, war in Kansas aufgewachsen und hatte sich gleich nach Antritt seiner Erbschaft nach Chicago abgesetzt. Mutter Sioux schilderte ihn als gutaussehenden, vergnügungssüchtigen Lebemann, einen aalglatten Charmeur, der einer Frau in kürzerer Zeit unter den Rock kam, als Jim Thorpe zum Binden seiner Schuhe brauchte. Das junge Paar lebte drei, vier Jahre lang in Saus und Braus, aber Mr. Witherspoon hatte eine Schwäche für Pferderennen, ganz zu schweigen von der Leidenschaft, mit der er sich an fünfzehn bis zwanzig Abenden im Monat mit Freunden zum Kartenspielen traf, und da er bei diesen ausgesuchten Lastern mehr Begeisterung als Können an den Tag legte, war von seinem riesigen Vermögen bald kaum noch was übrig. Am Ende war die Lage so verzweifelt, dass die beiden schon glaubten, sie müssten nach Wichita ins Haus seiner Familie zurückziehen, und er, Charlie Witherspoon, der Polospieler, Abenteurer und Bajazzo der North Side, würde sich tatsächlich nach einem Ganztagsjob bei irgendeiner trübseligen Provinzversicherung umsehen müssen. Da nun trat Meister Yehudi auf den Plan – beziehungsweise ins Hinterzimmer eines Billardsalons an der Rush Street, wo Mr. Witherspoon und ein paar namenlose andere um vier Uhr morgens um einen grünen Spieltisch saßen und Karten spielten. Wie heißt es in den Comics immer? Es war nicht Charlies Nacht: Er ging gradewegs den Bach runter, saß da mit drei Buben und zwei Königen auf der Hand und hatte nicht einen Cent mehr zum Setzen. Meister Yehudi war als Einziger noch im Spiel, und da das eindeutig die letzte gute Chance war, die Charlie haben würde, beschloss er, aufs Ganze zu gehen. Als Erstes setzte er seine Liegenschaften in Cibola, Kansas, ein (die ehemalige Farm seiner Großeltern), überschrieb Haus und Land auf einem Stück Papier, und als Meister Yehudi mithielt und sogar noch erhöhte, unterzeichnete der Gentleman ein weiteres Stück Papier, womit er auf alle Rechte an seiner Frau verzichtete. Meister Yehudi hatte vier Siebenen, und da ein Vierer mehr zählt als ein Full House, ganz gleich, was für Herrschaften am Tisch sitzen, gewann er die Farm und die Frau dazu, und der arme geschlagene Charlie Witherspoon schwankte, am Ende seines Lateins, im Morgengrauen nach Hause, trat ins Schlafzimmer seiner Frau, nahm einen Revolver aus dem Nachttisch und jagte sich neben ihr auf dem Bett eine Kugel in den Kopf.
So kam es, dass Meister Yehudi seine Zelte in Kansas aufschlug. Nach Jahren des Herumwanderns hatte er endlich ein Haus, das er sein Eigen nennen konnte, und obwohl es nicht unbedingt dem entsprach, was er sich vorgestellt hatte, dachte er nicht daran, zu verschmähen, was ihm diese vier Siebenen eingebracht hatten. Unklar blieben mir dabei Mrs. Witherspoons gegenwärtige Verhältnisse. Wenn ihr Mann völlig mittellos gestorben war – woher stammte dann das nötige Kleingeld, das sie doch haben musste, um so sorgenfrei in ihrer Villa in Wichita zu leben, sich schöne Kleider und smaragdgrüne Limousinen zu genehmigen und trotzdem immer noch genug übrig zu haben, um Meister Yehudis Projekte zu unterstützen? Auch auf die Frage hatte Mutter Sioux eine Antwort parat. Mrs. Witherspoon war eben clever. Nachdem sie auf den verschwenderischen Lebensstil ihres Mannes aufmerksam geworden war, begann sie die Bücher zu frisieren, einen Teil ihrer monatlichen Einkünfte abzuzweigen und sie in hochverzinsliche
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