Mr. Vertigo
Dinge zu beherrschen und auch vorzuführen.»
«Schweben und Schwingen zusammen?»
«Ganz recht, Walt. Schweben und Schwingen zusammen. Was dann?»
«Dann würde ich fliegen, stimmt’s? Ich würde wie ein Vogel durch die Luft fliegen.»
«Nicht wie ein Vogel, kleiner Mann. Wie ein Gott. Du wärst ein Wunder, Walt, ein Heiligtum. Solange Menschen auf Erden wandeln, würden sie dich als den Größten unter ihnen verehren.»
Fast den ganzen Winter arbeitete ich allein in der Scheune. Bloß die Tiere waren dabei, aber die beachteten mich nicht und nahmen meine gegen das Gesetz der Schwerkraft verstoßenden Kunststücke stumm und gleichgültig zur Kenntnis. Dann und wann kam der Meister vorbei und erkundigte sich nach meinen Fortschritten, sagte jedoch selten mehr als ein paar aufmunternde Worte. Im Januar war es am schlimmsten, da kam ich gar nicht voran. Inzwischen fiel mir das Levitieren so leicht wie das Atmen, aber ich kam nicht über die armselige Höhe von zwei Handbreit hinaus, und dass ich mich in der Luft bewegen könnte, schien ausgeschlossen. Es war nicht bloß so, dass ich einfach nicht den Dreh rausbekam, sondern ich konnte es mir nicht mal vorstellen, und alle Bemühungen, meinen Körper dazu zu bringen, waren vergebens. Auch der Meister konnte mir nicht helfen. «Du musst es eben immer wieder probieren», sagte er, «immer wieder probieren, mehr kann ich dir nicht raten. Du bist jetzt in der schwierigsten Phase, und du kannst nicht erwarten, über Nacht in den Himmel zu kommen.»
Anfang Februar verließen Äsop und Meister Yehudi die Farm, um sich Colleges und Universitäten im Osten anzusehen. Sie wollten sich einen ganzen Monat Zeit lassen, denn immerhin ging es um die Entscheidung, wo Äsop sich im September einschreiben sollte. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass ich sie anflehte, mich mitzunehmen. Sie würden Städte wie Boston und New York besuchen, riesige Metropolen mit den Spitzenteams der Baseball-Liga, Straßenbahnen und Flippergeräten, und die Vorstellung, allein in dieser Wildnis zu hocken, war kaum zu ertragen. Wenn ich mit Schweben und Schwingen inzwischen Fortschritte gemacht hätte, wäre es nicht so schlimm gewesen, allein zurückzubleiben, aber ich kam kein bisschen voran und sagte dem Meister, ein bisschen Abwechslung wäre genau das Richtige, um meine Säfte wieder in Schwung zu bringen. Er lachte auf seine herablassende Art und meinte: «Deine Zeit kommt noch, Junge, aber jetzt ist Äsop an der Reihe. Der Ärmste hat seit sieben Jahren keinen Bürgersteig und keine Ampel mehr gesehen, und als Vater habe ich die Pflicht, ihm ein wenig von der Welt zu zeigen. Man kann nicht alles aus Büchern lernen. Irgendwann muss man die Dinge in Fleisch und Blut vor sich sehen.»
«Apropos Fleisch und Blut», sagte ich, meine Enttäuschung hinunterschluckend, «Äsops bestes Stück sollte auch nicht zu kurz kommen. Er sehnt sich schon die ganze Zeit danach, das Ding mal irgendwo anders reinzustecken als in seine Hand.»
«Keine Sorge, Walt. Steht auf dem Programm. Mrs. Witherspoon hat mich eigens zu diesem Zweck mit zusätzlichem Geld ausgestattet.»
«Sehr aufmerksam von ihr. Vielleicht tut sie mir eines Tages auch mal den Gefallen.»
«Würde sie bestimmt, aber ich bezweifle, dass du auf ihre Hilfe angewiesen sein wirst.»
«Bleibt abzuwarten. Im Augenblick hab ich sowieso kein Interesse.»
«Umso mehr Grund für dich, hier in Kansas zu bleiben und deine Arbeit zu tun. Wenn du dich ranhältst, kann ich bei meiner Rückkehr vielleicht die eine oder andere Überraschung erleben.»
Und so war ich den ganzen Februar mit Mutter Sioux allein, sah dem Schnee zu und lauschte dem Wind, der über die Prärie fegte. In den ersten zwei Wochen war es so kalt, dass ich es nicht über mich brachte, in die Scheune zu gehen. Die meiste Zeit hockte ich apathisch im Haus herum, zu niedergeschlagen, um an meinen Kunststücken weiterzuüben. Auch wenn nur wir beide da waren, hatte Mutter Sioux im Haus genug zu tun, bloß dass sie jetzt, mit ihrem kaputten Bein, schneller müde wurde als früher. Trotzdem versuchte ich immer wieder, sie bei der Arbeit in Gespräche zu verwickeln, was ihr wahnsinnig auf die Nerven ging. Über zwei Jahre lang hatte ich praktisch nur an mich selbst gedacht und die Leute in meiner Umgebung eigentlich nur oberflächlich wahrgenommen. Ich hatte mich nie für ihre Vergangenheit interessiert, hatte mich nie wirklich bemüht herauszufinden, wer oder was sie gewesen waren,
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