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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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richtig los. Sogar der Name des Ortes schien mir ein gutes Omen zu sein, und da ich damals ungeheuer abergläubisch war, verlieh mir der Name geradezu Flügel. Redbird. Rot wie der Kardinal, nach dem mein alter Baseball-Club in Saint Louis benannt war.
    Es war dieselbe Nummer, nur in neuen Kleidern, aber auch alles andere kam mir irgendwie neu vor, und das Publikum war von Anfang an auf meiner Seite – womit die Schlacht schon halb gewonnen war. Meister Yehudi zog sämtliche Register, mein Huckleberry-Finn-Kostüm war von überwältigender Bescheidenheit, wir waren schlichtweg umwerfend. Ein halbes Dutzend Frauen fiel in Ohnmacht, Kinder kreischten, ausgewachsene Männer bekamen vor ungläubigem Staunen den Mund nicht mehr zu. Dreißig Minuten lang schlug ich sie in meinen Bann, glitt tänzelnd und turnend über der Oberfläche eines weiten, funkelnden Sees dahin, schwang mich am Ende zu der Rekordhöhe von knapp anderthalb Metern auf, ließ mich dann auf den Boden zurücksinken und machte meine Verbeugung. Es gab donnernden, überschwänglichen Applaus. Die Leute jauchzten und schrien, sie schlugen auf Töpfe und Pfannen und schmissen Konfetti in die Luft. Das also war mein erster Erfolg, und das gefiel mir, es gefiel mir, wie mir nie zuvor oder danach was gefallen hat.
    Dunbar und Battiest. Jumbo und Plunketsville. Pickens, Muse und Bethel. Wapanucka. Boggy Depot und Kingfisher. Gerty, Ringling und Marble City. Wenn das hier ein Film wäre, würden jetzt die Kalenderblätter von der Wand segeln. Wir sähen sie vor einem Hintergrund aus Landstraßen und Steppenhexen herumflattern, und dann würden die Namen der Ortschaften vorbeiziehen, während die Kamera den Weg des schwarzen Ford über eine Karte von Oklahoma verfolgt. Dazu flotte Musik, heiter und schwungvoll, untermalt vom Geräusch klingelnder Kassen. Ein Schnitt jagt den nächsten, die Bilder verschmelzen. Körbe voller Münzen, niedrige Häuser am Straßenrand, klatschende Hände und stampfende Füße, offene Münder, ungläubige, gen Himmel gerichtete Blicke. Die ganze Schnittfolge würde nur zehn Sekunden dauern, aber am Ende wäre die Geschichte dieses Monats jedem Zuschauer im Kino geläufig. Ach ja, die gute alte Hollywood-Masche. Es gibt nichts Besseres, die Handlung voranzutreiben. Nicht grade subtil, aber sehr wirkungsvoll.
    So viel zu den Launen der Erinnerung. Wenn ich jetzt plötzlich ans Kino denken muss, kommt das wohl daher, dass ich in den nun folgenden Monaten so viele Filme gesehen habe. Nach dem Triumph von Oklahoma hatten wir keine Probleme mehr, an Auftrittsmöglichkeiten zu kommen; der Meister und ich waren fast ständig auf Achse, von einem Provinznest zum nächsten. Wir gaben Gastspiele in Texas, Arkansas und Louisiana, gerieten mit Beginn des Winters immer tiefer in den Süden, und die langweilige Zeit zwischen den Auftritten nutzte ich am liebsten zu Kinobesuchen und sah mir die neuesten Streifen an. Der Meister musste sich dauernd um geschäftliche Dinge kümmern – mit Jahrmarktmanagern und Kartenverkäufern verhandeln, Handzettel verteilen und Plakate kleben, die nächste Vorstellung bis ins kleinste Detail vorbereiten – und hatte drum selten Zeit, mich zu begleiten. Wenn ich zurückkam, fand ich ihn meistens allein im Zimmer mit seinem Buch beschäftigt. Es war immer dasselbe Buch – ein abgeschabtes grünes Bändchen, das er auf allen unseren Reisen mit sich führte und das mir am Ende so vertraut wurde wie die Falten und Umrisse seines Gesichts. Es war, man stelle sich vor, in Latein geschrieben, und sein Verfasser hieß Spinoza, ein Detail, das ich auch nach so vielen Jahren nicht vergessen habe. Als ich den Meister fragte, warum er denn immer wieder dieses eine Buch studiere, antwortete er, weil es unmöglich sei, ihm jemals ganz auf den Grund zu kommen. Je tiefer man eindringt, sagte er, desto mehr sieht man, und je mehr man sieht, desto länger braucht man, es zu lesen.
    «Ein Zauberbuch», sagte ich. «Es kann nie alle werden.»
    «Richtig, Schlingel. Es ist unerschöpflich. Man trinkt den Wein aus, stellt das Glas auf den Tisch, und siehe da, wenn man wieder danach greift, ist es noch immer voll.»
    «Und dann ist man stinkbesoffen und hat bloß ein Glas bezahlt.»
    «Ich hätte es nicht besser ausdrücken können», sagte er, indem er sich plötzlich von mir abwandte und aus dem Fenster starrte. «Man betrinkt sich an der Welt. An den Rätseln der Welt.»
    Gott, aber was war ich glücklich mit ihm dort draußen.

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