Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
gerettet haben, aber in dem Punkt täuschen Sie sich ganz gewaltig. Das Kostüm ist eine saublöde Idee. Entschuldigen Sie meine Offenheit, aber Sie können mich anschreien, so viel Sie wollen, das Ding zieh ich nicht noch mal an.»
    «Wozu sollte ich dich anschreien? Wir ziehen an einem Strang, Junge, und es steht dir frei, deine Meinung zu äußern. Wenn du dich anders kleiden willst, brauchst du es mir nur zu sagen.»
    «Ehrlich?»
    «Wir haben eine lange Fahrt nach Wichita vor uns, und es gibt keinen Grund, jetzt nicht über diese Dinge zu sprechen.»
    «Ich will ja nicht meckern», sagte ich und ergriff die Gelegenheit beim Schopf, «aber wie ich es sehe, haben wir bloß dann eine Chance, wenn wir die Leute von Anfang an für uns einnehmen. Diese Deppen wollen von Mummenschanz nichts wissen. Denen hat Ihr Pinguin-Aufzug nicht gefallen, und mein Fummel schon gar nicht. Und dieses hochgestochene Gerede, das Sie vorher vom Stapel gelassen haben – das haben die gar nicht kapiert.»
    «War ja auch nur dummes Geschwätz. Um sie in Stimmung zu bringen.»
    «Sicher, sicher. Aber sollten wir das in Zukunft nicht lassen? Einfach nur schlicht und volkstümlich. So was wie: ‹Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Hier ist er!› Und dann bin ich an der Reihe. Wenn Sie einen normalen alten Anzug und einen netten Strohhut tragen, wird sich keiner dran stören. Man wird Sie für einen freundlichen, gutmütigen Burschen halten, der ehrlich ein paar Dollar machen will. Das ist das Entscheidende, der springende Punkt. Ich mach meinen Auftritt als kleiner Tollpatsch, als einfältiger Bauernjunge in Bluejeans und Karohemd. Keine Schuhe, keine Strümpfe, ein barfüßiger Niemand mit genau so einer dümmlichen Visage wie ihre eigenen Söhne und Neffen. Ein Blick, und sie sind beruhigt. Ich gehör zur Familie. Und dann, wenn ich in die Luft aufsteige, verlässt sie der Mut. So einfach ist das. Erst muss man sie weichmachen, und dann kommt der Hammer. Das funktioniert todsicher. Nach zwei Minuten fressen sie uns aus der Hand.»
    Wir brauchten fast drei Stunden bis nach Hause, und ich redete die ganze Zeit und sagte dem Meister so offen die Meinung wie noch nie zuvor. Ich sprach über alles, was mir einfiel – Kostüme und Veranstaltungsorte, Kartenverkauf und Musik, Auftrittszeiten und Reklame –, und der Meister ließ mich ausreden. Er war sichtlich beeindruckt, vielleicht sogar ein bisschen verblüfft von meiner Gründlichkeit und Entschlossenheit, aber ich kämpfte an dem Nachmittag um mein Leben, und da hätte es keinen Sinn gehabt, um den heißen Brei rumzureden. Meister Yehudi hatte ein Schiff vom Stapel gelassen, das voller Lecks war, und statt zu versuchen, die Löcher zu stopfen, während das Wasser reinrauschte und uns zum Sinken brachte, wollte ich das Ding lieber in den Hafen zurückschleppen und von Grund auf umbauen. Der Meister hörte sich meine Gedanken an, ohne mich zu unterbrechen oder sich über mich lustig zu machen, und am Ende gab er mir in den meisten Punkten recht. Es kann ihm nicht leichtgefallen sein, sich mit seinem Scheitern als Promoter abzufinden, aber ihm lag genauso viel an unserem Erfolg wie mir, und er war stark genug zuzugeben, dass er den falschen Weg eingeschlagen hatte. Nicht dass er kein Konzept gehabt hätte, aber das Konzept war altmodisch, es entsprach dem schmalzigen Stil der Vorkriegswelt, in der er aufgewachsen war, und passte einfach nicht in die hektische neue Zeit. Mir schwebte was Modernes vor, was mit Köpfchen, elegant und direkt, und allmählich gelang es mir, ihn rumzukriegen, ihn zu überzeugen, dass wir es anders machen mussten.
    Trotzdem, in gewissen Punkten ließ er nicht mit sich reden. Ich wollte unbedingt nach Saint Louis und die Nummer in meiner alten Heimatstadt aufführen, aber den Vorschlag lehnte er rundweg ab. «Das ist der gefährlichste Ort der Welt für dich», sagte er. «Du unterschreibst dein eigenes Todesurteil, wenn du da wieder hingehst. Lass es dir gesagt sein. Saint Louis ist dein Verderben. Die Stadt ist Gift für dich, da kommst du lebend nicht mehr raus.» Ich begriff nicht, warum er so heftig war, aber er sprach mit solchem Nachdruck, dass ich nicht dagegen ankam. Wie sich bald rausstellte, hatte er mit seinen Worten voll ins Schwarze getroffen. Nur einen Monat später wurde Saint Louis vom schlimmsten Tornado des Jahrhunderts heimgesucht. Der Orkan raste in die Stadt wie eine Kanonenkugel aus der Hölle, und als er nach

Weitere Kostenlose Bücher