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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Schon die Fahrerei von einem Ort zum anderen war Balsam für meine Seele, aber wenn man noch die anderen Dinge dazunahm – das Publikum, die Vorstellungen, unsere Einnahmen –, waren diese ersten Monate zweifellos die beste Zeit meines Lebens. Selbst nachdem sich die anfängliche Erregung verloren hatte und einer gewissen Routine Platz machte, wollte ich noch lange nicht aufhören. Klumpige Betten, Reifenpannen, schlechtes Essen, die Streiche des Wetters, Flauten und Durchhänger, all das prallte von mir ab wie Kiesel von einem Rhinozeros. Wir stiegen, wieder siebzig oder hundert Dollar mehr im Kofferraum, in den Ford und verkrümelten uns zum nächsten Kaff; unterwegs ließen wir die Landschaft an uns vorüberziehen und sprachen über die gelungeneren Details der letzten Vorstellung. Der Meister war phantastisch, er hatte nur gute Worte und Ratschläge für mich, hörte mir immer zu und gab mir nie das Gefühl, ich sei auch nur im Geringsten weniger wichtig als er selbst. Seit dem Sommer hatte sich so viel zwischen uns geändert – es war, als ob wir einander gleichgestellt wären, als ob wir so was wie ein stabiles Gleichgewicht gefunden hätten. Er machte seine Arbeit, und ich machte meine, und zusammen führten wir die Sache zum Erfolg.
    Der Börsenkrach kam erst zwei Jahre später, aber in der Provinz machte sich die Depression schon bemerkbar, und die Farmer und Landbewohner der ganzen Region hatten darunter zu leiden. Wir lernten auf unseren Reisen eine Menge verzweifelter Leute kennen, und Meister Yehudi lehrte mich, nie auf sie herabzuschauen. Sie brauchten Walt den Wunderknaben, sagte er; ich dürfe nie vergessen, welche Verantwortung mir damit auferlegt sei. Zu sehen, wie ein Zwölfjähriger Dinge tue, die bis dahin nur Heilige und Propheten getan hätten, müsse ihnen wie ein Fingerzeig des Himmels vorkommen; mit meinen Vorstellungen könne ich Tausenden von leidenden Seelen inneren Auftrieb geben. Das solle mich keineswegs davon abhalten, einen Haufen Geld damit zu verdienen, aber solange mir nicht bewusst sei, dass ich die Herzen der Leute erreichen müsse, würde ich niemals die Anhängerschaft bekommen, die ich verdient hätte. Ich nehme an, das ist auch der Grund dafür, weshalb der Meister meine Karriere in einer so abgelegenen Gegend, in diesen hinterletzten Winkeln auf der Landkarte hat anfangen lassen. Mein Ruhm sollte sich langsam ausbreiten, meine Anhängerschaft sollte eine solide Basis haben. Es ging ihm nicht nur darum, mich einzuarbeiten, er wollte die Dinge auch unter Kontrolle behalten und sicherstellen, dass ich keine Eintagsfliege war.
    Wie hätte ich was dagegen haben können? Die Veranstaltungen waren gut organisiert, die Zuschauerzahlen in Ordnung, und wenn wir uns abends schlafen legten, hatten wir immer ein Dach überm Kopf. Ich tat, was ich wollte, und das versetzte mich in eine solche Hochstimmung, dass es mir vollkommen gleichgültig war, ob die Leute, die mich sahen, aus Paris in Frankreich oder Paris in Texas stammten. Selbstverständlich ging nicht alles glatt, aber Meister Yehudi war offenbar auf jede Situation vorbereitet. Einmal zum Beispiel, in Dublin, Mississippi, klopfte in unserer Pension ein Fürsorgebeamter an die Tür. Er zeigte mit seinem langen knochigen Finger auf mich und fragte den Meister: Warum ist der Junge nicht in der Schule? Kennen Sie die gesetzlichen Vorschriften nicht? Und so weiter und so weiter. Ich dachte, jetzt ist alles aus, aber der Meister lächelte bloß, bat den Herrn einzutreten und zog dann ein Stück Papier aus seiner Brusttasche. Es war mit amtlich aussehenden Stempeln und Siegeln bedeckt, und als der Beamte es durchgelesen hatte, tippte er irgendwie verlegen an seinen Hut, entschuldigte sich für die Verwechslung und ging. Gott weiß, was auf dem Papier gestanden hat, aber jedenfalls hatte es eine durchschlagende Wirkung. Bevor ich irgendwas davon lesen konnte, hatte der Meister den Zettel schon wieder zusammengefaltet und in die Tasche zurückgesteckt. «Was steht denn da?», fragte ich, aber er antwortete nicht, auch nicht, als ich die Frage wiederholte. Er klopfte sich bloß wichtigtuerisch an die Brust und grinste selbstzufrieden. Er erinnerte mich an eine Katze, die grade den Familienvogel verspeist hat und nicht verraten will, wie sie den Käfig aufbekommen hat.
    Von Ende 1927 bis Mitte 1928 war ich in einen Kokon totaler Konzentration eingesponnen. Ich dachte nicht an die Vergangenheit, ich dachte nicht an die Zukunft –

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