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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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fünf Minuten am anderen Ende wieder hinausfuhr, waren tausend Gebäude flachgelegt, es gab hundert Tote und zweitausend Verletzte, die blutüberströmt und mit gebrochenen Knochen unter den Trümmern lagen. Wir waren damals grade auf dem Weg nach Vernon, Oklahoma, auf der fünften Etappe einer Tournee durch vierzehn Städte, und als ich die Morgenausgabe des örtlichen Käseblatts nahm und die Bilder auf der ersten Seite sah, kam mir beinah das Frühstück wieder hoch. Ich hatte gedacht, der Meister wäre nicht mehr auf dem Laufenden, aber ich hatte ihn wieder mal unterschätzt. Er wusste Dinge, die ich nie wissen würde, er hörte Dinge, die keiner hörte, kein Mensch auf der ganzen Welt konnte es mit ihm aufnehmen. Wenn ich noch mal an seinen Worten zweifle, sagte ich mir, soll Gott mich niederschlagen und den Schweinen zum Fraß vorwerfen.
    Aber ich greife vor. Der Tornado kam erst Ende September, und fürs Erste haben wir immer noch den 25. August. Meister Yehudi und ich sitzen noch immer in unseren nassen Sachen im Auto und sind auf dem Rückweg zu Mrs. Witherspoons Haus in Wichita. Nach unserem langen Gespräch darüber, wie wir die Vorstellung aufpolieren könnten, sah ich unsere Aussichten allmählich in etwas rosigerem Licht, obwohl es übertrieben wäre zu behaupten, dass ich schon vollkommen beruhigt war. Dass ich nach Saint Louis wollte und er nicht, war nur eine unbedeutende Meinungsverschiedenheit, aber es gab andere Dinge, die mich stark verunsicherten, man könnte sagen: grundsätzliche Schwachpunkte der Konstruktion. Und nachdem ich schon so viel von mir preisgegeben hatte, glaubte ich jetzt auch aufs Ganze gehen zu können. Also wagte ich den Sprung und brachte das Gespräch auf Mrs. Witherspoon. Ich hatte mich noch nie getraut, von ihr zu sprechen, und hoffte bloß, der Meister würde mir nicht eins in die Fresse hauen.
    «Kann sein, dass es mich nichts angeht», begann ich so vorsichtig wie möglich, «aber ich versteh immer noch nicht, warum uns Mrs. Witherspoon nicht begleitet hat.»
    «Sie wollte uns nicht im Weg sein», sagte der Meister. «Sie dachte, sie bringt uns Unglück.»
    «Aber sie finanziert uns doch, oder? Sie bezahlt den ganzen Spaß. Man sollte meinen, sie will dabei sein und aufpassen, was mit ihrem Geld passiert.»
    «Sie ist ein stiller Teilhaber, so nennt man das.»
    «Still? Sehr witzig, Chef. Diese Frau ist die lautstärkste Type diesseits der nächsten Autofabrik. Die quatscht einem die Ohren ab und spuckt sie wieder aus, bevor man selbst mal zu Wort kommt.»
    «Im Leben, ja. Aber ich rede vom Geschäft. Im Leben ist sie zweifellos nicht auf den Mund gefallen. Darüber brauchen wir uns nicht zu streiten.»
    «Ich weiß nicht, was ihr Problem ist, aber in der ganzen Zeit, wo Sie außer Gefecht waren, hat sie reichlich merkwürdige Sachen gemacht. Sie ist ja ’ne nette Frau und so weiter, das will ich nicht abstreiten, aber manchmal, sage ich Ihnen, manchmal ist es mir kalt über den Rücken gelaufen, wie sie sich aufgeführt hat.»
    «Sie war sehr beunruhigt. Das kannst du ihr nicht zum Vorwurf machen, Walt. Sie hatte in den letzten Monaten ein paar dicke Brocken zu schlucken, und sie ist viel zerbrechlicher, als du glaubst. Du musst einfach Geduld mit ihr haben.»
    «So ziemlich dasselbe hat sie mir von Ihnen erzählt.»
    «Sie ist eine patente Frau. Vielleicht ein bisschen reizbar, aber ein kluger Kopf, und sie hat das Herz am rechten Fleck.»
    «Mutter Sioux, ihre Seele möge in Frieden ruhen, hat mir mal erzählt, Sie hätten vor, sie zu heiraten.»
    «Stimmt. Dann wollte ich nicht mehr. Dann wieder doch. Dann wieder nicht. Und jetzt? Wer weiß. Wenn mich die Jahre eins gelehrt haben, Junge, dann das: Alles ist möglich. Wenn es um Männer und Frauen geht, ist auf nichts Verlass.»
    «Ja, sie ist ganz schön eigensinnig, da geb ich Ihnen recht. Grade wenn man denkt, man hätte sie am Lasso, reißt sie sich los und springt auf die nächste Weide.»
    «Ganz genau. Was erklärt, warum es manchmal am besten ist, gar nichts zu tun. Wenn man einfach stehen bleibt und wartet, kommt das, was man haben will, womöglich von selbst angelaufen.»
    «Das ist mir zu hoch, Sir.»
    «Da bist du nicht der Einzige, Walt.»
    «Aber wenn Sie den Gaul schließlich doch besteigen, halt ich jede Wette, dass der Ritt ziemlich ungemütlich wird.»
    «Mach dir deshalb keine Sorgen. Konzentrier dich nur auf deine Arbeit und überlass die Liebesgeschichten mir. Ich brauche keine Ratschläge

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