Mr. Vertigo
nur an die Gegenwart, nur an das, was ich grade tat. Im Schnitt verbrachten wir höchstens drei oder vier Tage pro Monat in Wichita, die ganze übrige Zeit fuhren wir mit unserem schwarzen Wundermobil kreuz und quer durch die Gegend. Erst Mitte Mai legten wir die erste richtige Pause ein. Mein dreizehnter Geburtstag stand bevor, und der Meister hielt es für angebracht, ein paar Wochen auszuspannen. Wir fahren zu Mrs. Witherspoon, sagte er, und essen zur Abwechslung mal wieder Hausmannskost. Wir könnten uns ausruhen, feiern und Geld zählen, und wenn wir vom Paschaspielen genug hätten, würden wir unser Bündel schnüren und von neuem aufbrechen. Ich hatte nichts dagegen, aber als wir dann zurückkamen und den Urlaub genießen wollten, spürte ich, dass da was nicht stimmte. Es lag nicht an Mrs. Witherspoon oder dem Meister. Die beiden waren sehr nett zu mir, und auch ihr Verhältnis untereinander war damals ganz besonders harmonisch. Es hatte auch nichts mit dem Haus zu tun. Nelly Boggs kochte die tollsten Sachen für uns, ich hatte ein gemütliches Bett, es war herrliches Frühlingswetter. Trotzdem: Kaum traten wir durch die Tür, legte sich eine unerklärliche Schwere auf mein Herz, eine dunkle Mischung aus Trauer und Unruhe. Ich dachte, nach einmal Ausschlafen würde ich mich besser fühlen, aber das Gefühl blieb; es steckte in mir drin wie ein unverdaulicher Klumpen, und ich konnte mir einreden, was ich wollte, ich wurde es einfach nicht los. Wenn überhaupt, nahm es sogar noch zu, es schien ein Eigenleben zu entwickeln und wurde am Ende so schlimm, dass ich am dritten Abend, nachdem ich den Pyjama angezogen hatte und ins Bett gekrochen war, von einem unwiderstehlichen Drang zu weinen überwältigt wurde. Es war verrückt, aber eine halbe Minute später schluchzte ich in mein Kissen und heulte mir in einem Anfall von Kummer und Reue die Augen aus dem Kopf.
Als ich mich früh am nächsten Morgen zu Meister Yehudi an den Frühstückstisch setzte, konnte ich nicht an mich halten, die Worte kamen mir aus dem Mund, bevor ich wusste, dass ich sie aussprechen würde. Mrs. Witherspoon lag noch oben im Bett, bloß wir beide saßen am Tisch und warteten auf Nelly Boggs, die gleich mit Würstchen und Rührei aus der Küche kommen würde.
«Erinnern Sie sich noch an die Regel, von der Sie mir erzählt haben?», fragte ich.
Der Meister blickte von den Schlagzeilen seiner Zeitung auf und bedachte mich mit einem langen, leeren Blick. «Regel?», sagte er. «Was für eine Regel?»
«Sie wissen doch. Die mit den Pflichten und so. Dass wir keine Menschen mehr wären, wenn wir die Toten vergessen würden.»
«Natürlich erinnere ich mich daran.»
«Also, ich finde, dass wir dauernd dagegen verstoßen.»
«Wie das, Walt? Äsop und Mutter Sioux sind in unseren Herzen. Wir tragen sie überall mit uns herum. Daran wird sich niemals etwas ändern.»
«Aber wir haben doch gekniffen. Die beiden sind von einer Horde Teufel ermordet worden, und wir sind einfach abgehauen.»
«Was hätten wir tun sollen? Wären wir ihnen nachgelaufen, hätten sie uns auch noch umgebracht.»
«Sicher, in dieser Nacht schon. Aber was ist mit jetzt? Wenn wir die Toten nicht vergessen sollen, haben wir keine andere Wahl: Wir müssen die Schweine aufspüren und dafür sorgen, dass sie kriegen, was sie verdient haben. Ich meine, wir amüsieren uns ja prächtig, wie? Wir gondeln mit unserem Auto durch die Gegend, scheffeln jede Menge Kohle, stolzieren wie hohe Tiere durch die Weltgeschichte. Aber was ist mit meinem Freund Äsop? Was ist mit der lustigen alten Mutter Sioux? Die modern in ihren Gräbern, und die Drecksäue, die sie aufgeknüpft haben, laufen immer noch frei rum.»
«Reiß dich zusammen», sagte der Meister und sah mich scharf an, während mir wieder die Tränen kamen und über die Wangen liefen. Seine Stimme war streng, beinahe wütend. «Natürlich könnten wir sie jagen», sagte er. «Wir könnten sie ausfindig machen und der Gerechtigkeit zuführen, aber damit wären wir den Rest unseres Lebens beschäftigt. Die Polizei wird uns nicht helfen, das garantiere ich dir, und wenn du dir einbildest, irgendeine Jury würde sie verurteilen, denk lieber noch mal nach. Der Klan ist überall, Walt, der ganze Saftladen tanzt nach deren Pfeife. Die netten lächelnden Leute, die du in Cibola auf der Straße gesehen hast – Tom Skinner, Judd McNally, Harold Dowd –, die gehören alle dazu, jeder Einzelne. Der Metzger, der Bäcker, der Mann,
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