Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
des Meisters arbeiten zu können. Ich war jetzt Profi, mit all den Belastungen und Terminzwängen eines Profis, und so konnte ich nur noch vor dem Publikum trainieren.
    Und genau das tat ich, besonders nach dem kleinen Urlaub in Wichita, wobei ich zu meiner enormen Verwunderung feststellte, dass mich der Druck inspirierte. Manche meiner besten Tricks stammen aus der Zeit, und ich bezweifle, dass ich ohne die anspornenden Blicke der Menge den Mut aufgebracht hätte, auch nur die Hälfte von dem zu probieren, was ich getan habe. Am Anfang stand die Treppennummer – es war das erste Mal, dass ich eine «unsichtbare Requisite» benutzte; ein Ausdruck, den ich später für meine Erfindung prägte. Wir waren damals in Upper Michigan, und mitten in der Vorstellung, als ich aufstieg, um den See zu überqueren, erblickte ich in der Ferne ein Gebäude. Es war ein riesiger Backsteinkasten, wohl ein Lagerhaus oder eine alte Fabrik, und an einer Seite befand sich eine metallene Feuertreppe. Diese Treppe drängte sich mir förmlich auf. Sie strahlte gleißend und geradezu wahnsinnig grell im Licht der Spätnachmittagssonne. Ohne überhaupt nachzudenken, hob ich einen Fuß, als ob ich eine echte Treppe ersteigen wollte, und setzte ihn auf eine unsichtbare Stufe. Nicht dass ich in der Luft irgendwas Festes gespürt hätte, aber hinauf ging ich trotzdem, Schritt für Schritt eine Treppe hoch, die sich von einem Ufer des Sees zum andern erstreckte. Ich hatte ein klares Bild davon im Kopf, auch wenn ich sie nicht sehen konnte. Nach meiner besten Erinnerung sah sie etwa so aus:

    See
    An ihrer höchsten Stelle – der Plattform in der Mitte – war sie knapp drei Meter über der Wasseroberfläche – weit über einen Meter höher, als ich es je geschafft hatte. Das Unheimliche dabei war, dass ich nicht zögerte. Sobald mir das Bild deutlich vorschwebte, wusste ich, dass ich unbesorgt drübergehen konnte. Ich musste nur der Form der imaginären Treppe folgen; sie würde mich tragen, als ob sie tatsächlich da wäre. Sekunden später glitt ich wie am Schnürchen über den See. Zwölf Stufen hinauf, zweiundvierzig Schritte hinüber, und zwölf Stufen hinunter. Eine schlichtweg perfekte Darbietung.
    Nach diesem Durchbruch merkte ich, dass auch mit anderen Requisiten gute Effekte zu erzielen waren. Solange ich mir das Gewünschte vorstellen konnte, solange ich es mir scharf und deutlich vergegenwärtigen konnte, stand es mir für den Auftritt zur Verfügung. Auf diese Weise entwickelte ich einige der denkwürdigsten Teile meiner Darbietung: die Strickleiter, die Rutsche, die Schaukel, den Hochseilakt, all die zahllosen Innovationen, mit denen ich angekündigt wurde. Die Tricks steigerten nicht nur das Vergnügen des Publikums, sondern verhalfen auch mir zu einer völlig neuen Beziehung zu meiner Arbeit. Ich war jetzt kein bloßer Roboter mehr, kein Aufzieh-Äffchen, das jedes Mal dieselben Kunststücke abspulte – vielmehr wurde ich zu einem Künstler, zu einem echten Schöpfer, der nicht weniger für sich selbst auftrat als für andere. Was mich dabei erregte, war das Unvorhersehbare, das Abenteuer, nie zu wissen, was sich von einer Show zur nächsten ergeben würde. Wenn man nur das Motiv hat, geliebt zu werden, sich bei den Leuten einzuschmeicheln, nimmt man schlechte Angewohnheiten an, und schließlich wendet sich das Publikum gelangweilt ab. Man muss sich immer wieder auf die Probe stellen, sein Talent so weit entwickeln, wie man kann. Man tut es für sich selbst, aber am Ende ist es grade dieses Streben nach Höherem, womit man sich bei den Fans am meisten beliebt macht. Es ist paradox. Die Menschen spüren, dass man Risiken für sie eingeht. Sie werden in das Mysterium einbezogen, sie dürfen teilhaben an dem Namenlosen, das einen antreibt, und sobald das geschieht, ist man kein bloßer Darsteller mehr, sondern auf dem besten Weg, ein Star zu werden. Und genau das war ich im Herbst 1928: kurz davor, ein Star zu werden.
    Mitte Oktober brachten wir in Illinois noch ein paar letzte Auftritte hinter uns, ehe es zu einer wohlverdienten Atempause nach Wichita zurückgehen sollte. Wenn ich mich recht erinnere, war es nach einer Show in Gibson City, einer dieser vergessenen Kleinstädte mit einer Buck-Rogers-Skyline aus Wassertürmen und Getreidesilos. Von weitem glaubt man sich einer soliden Stadt zu nähern, und dann merkt man, dass diese Getreidesilos auch schon alles sind. Wir hatten das Hotel schon verlassen und saßen in einem

Weitere Kostenlose Bücher