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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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als ein Reporter von der örtlichen Presse auf der Pirsch nach allerletzten Neuigkeiten in der Polizeiwache rumschnüffelte, erkannte er mich von den Fotos wieder und sagte den anderen Bescheid. Und sofort kamen die Bluthunde und Schmierfinken angerannt und tauchten mich in ein stundenlanges Blitzlichtgewitter. Bis in die frühen Morgenstunden riss ich das Maul auf und erzählte ihnen wüste Geschichten, wie ich meine Entführer ausgetrickst und mich verdünnisiert hatte, bevor sie das Lösegeld kassieren konnten. Die nackten Tatsachen hätten es wohl auch schon getan, aber ich konnte es mir nicht verkneifen, ein bisschen dick aufzutragen. Ich genoss meinen frischen Ruhm in vollen Zügen, und es verdrehte mir nach einer Weile einfach den Kopf, wie diese Reporter mich anstarrten und an meinen Lippen hingen. Schließlich war ich ja so was wie ein Schauspieler, und angesichts eines solchen Publikums brachte ich es nicht übers Herz, die Leute zu enttäuschen.
    Als der Meister kam, war sofort Schluss mit dem Quatsch. In den nächsten Stunden gab ich mich ganz unseren Tränen und Umarmungen hin – aber nicht vor den Augen der Öffentlichkeit. Wir saßen allein in einem Hinterzimmer der Polizeiwache und hielten einander, während zwei Polizisten die Tür bewachten, schluchzend in den Armen. Nachdem wir dann unsere Aussagen gemacht und unterschrieben hatten, brachen wir schleunigst auf und zwängten uns durch einen Haufen Gaffer und Schulterklopfer auf die Straße. Die Menge jubelte und schrie hurra, aber der Meister blieb nur einmal kurz stehen, winkte den Schaulustigen lächelnd zu und schob mich dann in ein am Straßenrand geparktes Auto mit Chauffeur. Anderthalb Stunden später saßen wir in unserem Privatabteil in einem Zug, der uns nach New England, zu den Sandstränden von Cape Cod, bringen sollte.
    Dass wir in Kansas keine Zwischenstation einlegen würden, wurde mir erst nach Einbruch der Dunkelheit klar. Ich hatte so viel mit dem Meister nachzuholen, musste ihm so viel beschreiben, erklären und erzählen, dass mir der Kopf schwirrte wie ein Milchshaker, und erst als das Licht ausgegangen war und wir in unseren Kojen lagen, fiel mir ein, mich nach Mrs. Witherspoon zu erkundigen. Der Meister und ich waren inzwischen sechs Stunden zusammen, ohne dass ihr Name auch nur einmal erwähnt worden war.
    «Warum nicht Wichita?», fragte ich. «Sind wir da nicht genauso gut aufgehoben wie in Cape Cod?»
    «Doch, natürlich», sagte der Meister, «aber in dieser Jahreszeit ist es zu heiß dort. Das Meer wird dir guttun, Walt. Da erholst du dich schneller.»
    «Und was ist mit Mrs. W.? Wann stößt sie zu uns?»
    «Diesmal wird sie nicht mitkommen, Junge.»
    «Warum nicht? Wissen Sie noch – in Florida? Wie sehr es ihr da unten gefallen hat? Wir haben sie kaum aus dem Wasser gekriegt. Wie sie da rumgeplanscht ist, so einen glücklichen Menschen hab ich überhaupt noch nie gesehen.»
    «Das mag schon sein, aber diesen Sommer wird sie nicht schwimmen gehen. Jedenfalls nicht mit uns.»
    Meister Yehudi seufzte, ein leiser Klagelaut flatterte ins Dunkel, und obwohl ich todmüde war und beinah schon einschlief, begann mein Herz schneller zu schlagen und legte los wie eine Alarmanlage.
    «Ach», sagte ich und versuchte mir meine Besorgnis nicht anmerken zu lassen. «Und warum?»
    «Eigentlich wollte ich dir das heute Abend nicht erzählen. Aber wo du nun einmal davon angefangen hast, hat es wohl keinen Sinn, es dir zu verheimlichen.»
    «Ja, was denn?»
    «Lady Marion hat eine wichtige Entscheidung getroffen.»
    «Entscheidung? Was für eine Entscheidung?»
    «Sie hat sich verlobt. Wenn alles nach Plan verläuft, wird sie noch vor Thanksgiving in den heiligen Stand der Ehe treten.»
    «Sie meinen heiraten? Den Bund fürs Leben schließen?»
    «Richtig. Mit einem Ring am Finger und einem Ehemann im Bett.»
    «Und dieser Ehemann sind nicht Sie?»
    «Gott bewahre! Ich bin doch hier bei dir! Wie kann ich bei ihr sein, wenn ich hier bei dir bin?»
    «Aber Sie sind doch ihre Nummer eins. Sie hat kein Recht, Sie einfach zu verlassen. Nicht ohne Ihre Einwilligung.»
    «Sie musste es tun, und ich habe sie nicht daran gehindert. Sie ist eine einzigartige Frau, Walt, und ich verbiete dir, auch nur ein Wort gegen sie zu sagen.»
    «Ich sage, was ich will. Wenn jemand Sie schlecht behandelt, läuft mir die Galle über.»
    «Sie hat mich nicht schlecht behandelt. Ihr waren die Hände gebunden, sie hat ein Versprechen gegeben, das sie nicht

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