Mr. Vertigo
Sie ist fest entschlossen, und wir können nichts tun, sie davon abzuhalten.»
«Aber es ist meine Schuld. Ohne diese blöde Entführung wär es doch gar nicht dazu gekommen.»
«Es ist nicht deine Schuld, Kleiner, sondern die deines Onkels, du darfst dir keine Vorwürfe machen – weder jetzt noch später. Vergiss es. Mrs. Witherspoon handelt aus freien Stücken, und wir werden nicht daran herummeckern. Verstanden? Wir werden uns wie Gentlemen benehmen, und wir werden ihr das nicht nur nicht übelnehmen, sondern wir werden ihr auch das schönste Hochzeitsgeschenk machen, das je eine Braut bekommen hat. Und jetzt geh schlafen. Wir haben einen Haufen Arbeit vor uns, und ich möchte, dass du dich jetzt keine Sekunde mehr über diese Sache aufregst. Sie ist erledigt. Der Vorhang ist gefallen, und bald hebt er sich zum nächsten Akt.»
Meister Yehudi redete ja nicht schlecht, aber als wir uns am nächsten Morgen im Speisewagen zum Frühstück setzten, machte er einen blassen und nervösen Eindruck – als ob er die ganze Nacht nicht geschlafen, sondern bloß ins Dunkel gestarrt und über das Ende der Welt nachgedacht hätte. Auch kam er mir dünner vor als früher, und ich fragte mich, wie mir das am Tag zuvor hatte entgehen können. Hatte mich das Glück blind gemacht? Ich sah ihn mir genauer an, studierte sein Gesicht so unvoreingenommen wie möglich. Er hatte sich zweifellos verändert. Seine Haut war runzlig und grau, in die Falten um seine Augen hatte sich ein verhärmter Ausdruck geschlichen, und insgesamt wirkte er irgendwie verbraucht, weniger eindrucksvoll, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er hatte ja auch einiges hinter sich – erst die schlimme Zeit meiner Entführung, dann den Verlust seiner Frau –, und ich konnte bloß hoffen, dass nicht noch mehr dahintersteckte. Ab und zu glaubte ich ein leichtes Zucken zu bemerken, wenn er sein Essen kaute, und einmal, gegen Ende der Mahlzeit, sah ich ganz deutlich, wie er mit der Hand über den Tisch fuhr und sich den Bauch hielt. War er krank, oder war das bloß ein vorübergehendes Unwohlsein? Und wenn er krank war, wie schlimm stand es um ihn?
Er sagte natürlich kein Wort dazu, und da ich selbst auch nicht allzu gesund aussah, hatte er einen guten Vorwand, während des ganzen Frühstücks nur von mir zu sprechen.
«Lang zu», sagte er. «Du bist ja völlig vom Fleisch gefallen. Iss die Waffeln auf, Kleiner, ich bestell dir gleich noch mehr. Wir müssen dich aufpäppeln, du musst wieder zu Kräften kommen.»
«Ich tue mein Bestes», sagte ich. «War kein feines Hotel, wo ich die letzte Zeit gewohnt habe. Diese Penner haben mir den reinsten Hundefraß zu essen gegeben, mein Magen ist auf die Größe einer Erbse zusammengeschrumpft.»
«Und dann müssen wir uns um deine Haut kümmern», fuhr der Meister fort, während er zusah, wie ich das nächste Stück Speck hinunterschlang. «Damit stimmt auch was nicht. Überall diese Flecken. Sieht aus, als ob du Windpocken hättest.»
«Irrtum, Meister, das sind Pickel, und manchmal sind sie so entzündet, dass mir schon das Lächeln weh tut.»
«Das glaub ich dir. Die Gefangenschaft hat deinen armen Körper ganz durcheinandergebracht. Eingesperrt ohne jedes Sonnenlicht, Tag und Nacht Blut und Wasser schwitzen – kein Wunder, dass du geschwächt bist. Der Strand wird eine wahre Wohltat für dich sein, Walt, und wenn die Pickel nicht weggehen, zeig ich dir, was du dagegen machen und wie du neue in Schach halten kannst. Meine Großmutter hatte ein Geheimrezept, das noch nie versagt hat.»
«Ich muss mir also kein neues Gesicht wachsen lassen?»
«Das jetzige tut’s auch. Es würde nicht so schlimm aussehen, wenn du nicht so viele Sommersprossen hättest. Und die zusammen mit Akne, das ist schon eine tolle Mischung. Aber nicht den Kopf hängen lassen, Kleiner. Bald wirst du nur noch eine Sorge haben, nämlich deinen Bart – und der ist dauerhaft, der bleibt dir bis zum bitteren Ende.»
Über einen Monat, genau so lang, wie Onkel Slim mich eingesperrt hatte, wohnten wir in einem kleinen Strandhaus auf Cape Cod. Um mich vor der Presse zu schützen, hatte der Meister es unter falschem Namen gemietet, und der Einfachheit und Bequemlichkeit halber traten wir als Vater und Sohn auf. Er hatte sich für den Namen Buck entschieden: Wir waren Timothy Buck und Timothy II, oder Tim Buck One und Tim Buck Two. Ein Scherz, der uns ein paar Lacher einbrachte, und das Komische dabei war, dass unser Aufenthaltsort
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