Mr. Vertigo
tatsächlich manches mit Timbuktu gemeinsam hatte, zumindest was seine Abgelegenheit betraf: auf einer Landzunge hoch über dem Meer und meilenweit keine Nachbarn. Eine Frau namens Hawthorne kam jeden Tag mit dem Auto aus Truro zum Kochen und Saubermachen, im Übrigen waren wir praktisch die ganze Zeit unter uns. Wir ließen uns die Sonne auf den Bauch scheinen, machten lange Spaziergänge am Strand, aßen Meeresfrüchte und schliefen jede Nacht zehn bis zwölf Stunden. Nach einer Woche dieses Faulenzerdaseins fühlte ich mich fit genug, es wieder mit dem Fliegen zu versuchen. Als Erstes ließ mich der Meister ein paar leichte Bodenübungen machen. Liegestütze, Hüpfen auf der Stelle, Strandläufe, und als es so weit war, wieder in die Luft zu gehen, trainierten wir hinter dem Kliff, wo Mrs. Hawthorne uns nicht beobachten konnte. Anfangs war ich ein bisschen eingerostet und stürzte einige Male ab, aber nach fünf, sechs Tagen hatte ich meine alte Form zurück und war wieder so stark und beweglich wie früher. Die frische Luft wirkte Wunder, und wenngleich das Rezept des Meisters (ein in warmes Salzwasser, Essig und Adstringenzien aus der Apotheke getauchtes Handtuch, das er mir alle vier Stunden aufs Gesicht legte) nicht so anschlug, wie er versprochen hatte, verschwand die Hälfte meiner Pickel nach und nach von alleine, was zweifellos der Sonne und dem guten Essen, das ich jetzt wieder bekam, zu verdanken war.
Meine Kräfte wären bestimmt noch schneller zurückgekehrt, wenn ich mir in diesem Urlaub zwischen Dünen und Nebelhörnern nicht eine schlimme Sache angewöhnt hätte. Jetzt, wo meine Hände wieder frei waren, entwickelten sie eine erstaunliche Unabhängigkeit. Sie bekamen richtiges Reisefieber, mussten herumstreunen und alles erforschen, und meine ständigen Ermahnungen, sie sollten stillhalten, nützten gar nichts: Sie wanderten trotzdem überallhin, wo sie wollten. Ich brauchte mich bloß abends ins Bett zu legen, und schon sausten sie zu ihrem Lieblingsplatz, einem waldigen Gelände südlich des Äquators. Dort besuchten sie ihren Freund, den Finger aller Finger, den allmächtigen, mit telepathischen Kräften begabten Herrscher des Universums. Niemand konnte seinem Ruf widerstehen. Meine Hände waren seine Sklaven, und wenn ich sie nicht grade wieder fesseln wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als sie frei herumlaufen zu lassen. So kam es, dass Äsops Wahnsinn der meine wurde, so kam es, dass sich mein Schwanz zur Herrschaft über mein Leben aufschwang. Das war nicht mehr die kleine Wasserpistole, die Mrs. Witherspoon einst in der Hand gehalten hatte. Seit damals hatte er an Größe und Statur gewonnen, und sein Wort war Gesetz. Er sagte: Gib mir die Hand, und ich gab sie ihm. Er schrie: Kraul mich, zupf mich, drück mich – und ich fügte mich willig seinen Launen. Wen kümmerte es, wenn ich blind wurde? Wen kümmerte es, wenn mir die Haare ausfielen? Mich rief die Natur, und ich folgte ihr allabendlich mit derselben atemlosen Gier wie Adam persönlich.
Der Meister allerdings war mir ein Rätsel. Er schien sich wohl zu fühlen, doch obwohl sich sein Aussehen und seine Gesichtsfarbe zweifelsohne verbesserten, bekam ich ein paarmal mit, wie er sich krampfhaft den Bauch hielt, und das Gesichtszucken trat jetzt beinahe regelmäßig auf, bei jeder zweiten oder dritten Mahlzeit. Trotzdem war er bester Dinge, und wenn er nicht gerade in seinem Spinoza las oder mit mir trainierte, hing er am Telefon und handelte Verträge für die nächste Tournee aus. Ich war jetzt eine große Nummer. Dafür hatte die Entführung gesorgt, und Meister Yehudi war nur allzugern bereit, daraus Profit zu schlagen. Er revidierte kurzerhand seine Pläne für meine Laufbahn, zog sich mit mir nach Cape Cod zurück und ging in die Offensive. Jetzt hatte er die Trümpfe in der Hand und konnte es sich leisten, die anderen zappeln zu lassen. Er konnte Bedingungen diktieren, den Organisatoren beispiellose neue Gewinnbeteiligungen abfordern und Garantien verlangen, wie sie nur den größten Publikumsmagneten zugestanden wurden. Ich war viel früher an der Spitze angelangt, als wir beide erwartet hatten, und noch bevor der Meister mit seiner Wühlarbeit fertig war, hatte er schon Dutzende von Theatern an der ganzen Ostküste gebucht, einen Rattenschwanz von Gastspielen, die uns bis Jahresende auf Trab halten würden. Und zwar nicht bloß in armseligen Kleinstädten und Dörfern – sondern in richtigen Städten, den großen
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