Mr. Vertigo
Gnade winseln, während mir das Blut durch die Haare sickerte.
«Bind ihn los», befahl er Fritz. «Der Bengel behauptet, er kann fliegen, und wir nehmen ihn beim Wort. Kein Wenn, kein Aber. Jetzt ist die Stunde der Wahrheit. Der kleine Walt wird seine Flügel ausbreiten und für uns durch die Luft tanzen.»
Ich konnte Fritz von unten ins Gesicht sehen. Er starrte Slim mit einer Mischung aus Entsetzen und Verwirrung an und war so verblüfft, dass er nicht mal versuchte, was zu sagen.
«Und?», sagte Slim. «Worauf wartest du noch? Bind ihn los!»
«Aber, Slim», stammelte Fritz. «Das kapier ich nicht. Wenn wir ihn fliegen lassen, wird er uns einfach davonfliegen. Genau wie du immer gesagt hast.»
«Vergiss, was ich gesagt habe. Bind ihn los, dann werden wir ja sehen, was für ein Lügner er ist. Ich wette, er kriegt keinen Fuß vom Boden hoch. Nicht einen einzigen schlappen Zentimeter. Und selbst wenn, na und? Wozu hab ich meine Kanone? Eine Kugel ins Bein, und er kommt schneller runter als ’ne gottverdammte Ente.»
Diese verrückte Erklärung schien Fritz zu überzeugen. Er zuckte die Achseln, kam in die Mitte des Zimmers, wo Slim mich abgelegt hatte, bückte sich und tat wie ihn geheißen. Aber kaum hatte er den ersten Knoten aufgemacht, überschwemmte mich eine Woge von Angst und Ekel.
«Ich tu’s nicht, niemals», sagte ich.
«Und ob du es tun wirst», sagte Slim. Ich hatte die Hände jetzt frei, und Fritz machte sich an den Fußfesseln zu schaffen. «Du wirst es den ganzen Tag lang tun, wenn ich es dir sage.»
«Du kannst mich erschießen», schluchzte ich. «Schlitz mir die Kehle auf oder verbrenn mich, aber für dich werde ich es niemals tun.»
Slim kicherte und trat mir mit der Schuhspitze voll in den Rücken. Der Atem zischte mir wie eine Rakete aus der Brust, und ich wälzte mich vor Schmerzen auf dem Boden.
«Ach, lass ihn doch, Slim», sagte Fritz, während er den letzten Knoten an meinen Knöcheln löste. «Er ist nicht in der richtigen Stimmung. Das sieht doch ein Blinder.»
«Wer hat dich denn nach deiner Meinung gefragt, Wasserkopf?», sagte Slim, womit er seine Wut auf einen Mann richtete, der doppelt so schwer und dreimal so stark war wie er.
«Hör auf damit», sagte Fritz und stemmte sich ächzend vom Boden hoch. «Du weißt, ich mag es nicht, wenn du mich so beschimpfst.»
«Beschimpfst?», brüllte Slim. «Was soll das heißen, Fettsack?»
«Das weißt du ganz genau. Wasserkopf und Fettsack und so was. Das ist nicht nett, einen so zu nennen.»
«Seit wann so empfindlich? Wie soll ich denn sonst zu dir sagen? Stell dich vor den Spiegel und sag mir, was du da siehst. Einen Fleischberg siehst du. Ich sage nur die Wahrheit, Fettsack. Wenn du ’nen anderen Namen willst, musst du erst mal ein paar Pfund abnehmen.»
Fritz war so ziemlich der dickfelligste Mensch, der mir je begegnet ist, aber diesmal hatte Slim es zu weit getrieben. Das roch ich, das spürte ich, und während ich noch nach Luft schnappend auf dem Boden lag und mich von dem Tritt in den Rücken zu erholen versuchte, wurde mir in aller Deutlichkeit bewusst, dass sich mir hier eine einmalige Chance bot. Ich hatte Arme und Beine frei, über mir braute sich ein böser Streit zusammen, ich musste bloß den richtigen Zeitpunkt abwarten. Und der kam, als Fritz einen Schritt auf Slim zuging und ihm vor die Brust schlug. «Du hast kein Recht, so zu reden», sagte er. «Nicht, wenn ich dich bitte, damit aufzuhören.»
Lautlos begann ich loszukriechen und schob mich so langsam und unauffällig wie möglich in Richtung Tür. Hinter mir krachte es, einmal und noch mal, dann schleiften Schuhe quietschend über den nackten Holzboden. Schreie, Keuchen und wilde Flüche begleiteten den Schmirgeltango, aber inzwischen hatte ich schon eine Hand an der Fliegentür, die zum Glück so verzogen war, dass sie nicht mehr richtig zuging. Ich drückte sie mit einem Stoß auf, kroch ein kleines Stück weiter, taumelte ins Freie und landete mit der Schulter voran auf der harten Erde von South Dakota.
Meine Muskeln fühlten sich ganz seltsam und schwammig an. Als ich versuchte aufzustehen, erkannte ich sie kaum wieder. Sie stellten sich dumm und gehorchten mir nicht. Die lange Zeit der Gefangenschaft und Bewegungslosigkeit hatte mich zu einem spastischen Clown gemacht. Ich zwang mich, aufrecht zu stehen, geriet aber schon beim ersten Schritt ins Stolpern. Ich fiel hin, raffte mich auf, taumelte ein, zwei Meter weiter und schlug wieder hin.
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