Mr. Vertigo
fließenden Bewegung, das heißt, ich musste zugleich nach vorne stürzen, die Sprosse packen und abheben. Sechs Monate vorher hätte ich so was noch nicht mal versucht, aber inzwischen hatte ich, was die Verkürzung des nötigen Trancezustandes betraf, einige Fortschritte gemacht. Brauchte ich zu Beginn meiner Karriere noch sechs, sieben Sekunden, war es jetzt weniger als eine: Gedanke und Tat waren praktisch zu einer Einheit verschmolzen. Bloß hob ich noch immer aus dem Stand ab. So hatte ich es immer getan; es war eins der Grundprinzipien meiner Kunst, und eine so radikale Änderung machte es erforderlich, den ganzen Vorgang von vorn bis hinten neu zu überdenken. Aber ich habe es geschafft. Hol’s der Teufel, ich habe es geschafft, und von all meinen Bravourstücken als Levitator bin ich auf das am meisten stolz. Meister Yehudi erfand dafür den Namen Schrot-Kombination, und so was Ähnliches war es auch: ein Gefühl, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein. Ich musste im Fallen für den Bruchteil einer Sekunde mit beiden Füßen den Boden berühren und dann blinzeln. Das Blinzeln war entscheidend. Es rief die Erinnerung an den Trancezustand zurück, und schon die geringste Spur dieser flimmernden Leere im Kopf reichte aus, mir den erforderlichen Schub zu geben. Ich blinzelte, hob den Arm, schloss die Hand um die unsichtbare Sprosse und hob ab. Etwas dermaßen Kompliziertes längere Zeit durchzuhalten wäre unmöglich gewesen. Eine Dreiviertelsekunde war das äußerste, aber mehr brauchte ich auch nicht, und als ich den Ablauf erst perfekt beherrschte, wurde der Leitersprung der Höhepunkt der Show, das Zentrum, um das alles andere kreiste.
Drei Tage vor unserer Abreise von Cape Cod stellte uns ein Mann in einem weißen Anzug den Pierce Arrow vor die Tür. Der Fahrer hatte den Wagen von Wichita heruntergefahren, und als er ausstieg und dem Meister grinsend und mit überschwänglichem Hallo die Hand schüttelte, hielt ich ihn zunächst für Orville Cox, diesen Schurken. Ich wollte dem Schweinehund sofort einen Tritt ans Schienbein verpassen, aber der Meister redete ihn als Mr. Bigelow an und bewahrte mich damit noch rechtzeitig davor, ihm einen herben Pfadfinderempfang zu bereiten. Ich kam bald dahinter, dass er ein weiterer von Mrs. Witherspoons bescheuerten Verehrern war. Ein ziemlich junger Bursche, ungefähr vierundzwanzig, mit rundem Gesicht und falscher Lache, und jedes zweite Wort war «Marion». Sie musste ihm ganz schön die Birne verdreht haben, dass er so eine lange Fahrt für sie auf sich genommen hatte, aber er schien mit sich zufrieden zu sein und überaus stolz darauf. Es war zum Kotzen. Als der Meister vorschlug, ins Haus zu gehen und was Kühles zu trinken, hatte ich ihm längst den Rücken zugedreht und stapfte die Holztreppe hinauf.
Ich ging schnurstracks in die Küche. Mrs. Hawthorne wusch gerade das Geschirr vom Mittagessen ab, sie saß klein und knochig auf einem Hocker neben der Spüle. «Hallo, Mrs. H.», sagte ich, noch immer ganz aufgewühlt, als ob der Teufel persönlich in meinem Kopf Purzelbäume schlüge. «Was gibt’s heute Abend?»
«Flunder, Kartoffelbrei und rote Bete», antwortete sie kurz angebunden.
«Lecker. Kann’s kaum erwarten, meine Beißerchen in die rote Bete zu senken. Machen Sie mir ’ne doppelte Portion, ja?»
Das entlockte ihr ein kleines Lächeln. «Kein Problem, Mister Hasenzahn», sagte sie und drehte sich auf dem Hocker zu mir um. Ich trat ein paar Schritte auf sie zu, und dann schlug ich zu.
«Sie kochen ja wirklich prima», sagte ich, «aber so was Tolles wie das hier haben Sie bestimmt noch nie gezaubert.»
Und bevor sie noch ein Wort sagen konnte, schenkte ich ihr ein strahlendes Lächeln, breitete die Arme aus und hob vom Boden ab. Langsam stieg ich auf, so hoch wie möglich, ohne mit dem Kopf an die Decke zu stoßen. Oben blieb ich hängen und sah zu Mrs. Hawthorne hinunter, und was sich da an Schreck und Verblüffung auf ihrem Gesicht abspielte, erfüllte voll und ganz meine Hoffnungen. Ein erstickter Schrei, sie verdrehte die Augen; und dann kippte sie ohnmächtig vom Hocker und landete mit einem leisen Plumps auf dem Boden. Zufällig traten in diesem Augenblick Bigelow und der Meister ins Haus; sie hörten den Plumps und kamen in die Küche gerannt. Meister Yehudi stürmte als Erster durch die Tür und sah mich gerade noch niedersinken, doch als Sekunden später Bigelow hereinkam, hatte ich schon wieder festen Boden unter den
Weitere Kostenlose Bücher