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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ersten Mal. Wieder die Posaune, gefolgt von Trommelrasseln und einem Schlag auf die Kesselpauke. Das ist die reinste Slapsticknummer, und ich bewege mich auf gefährlich dünnem Eis. Kaum bin ich aufgestanden und mache einen Schritt, gleite ich auf einem Rollschuh aus und falle noch mal hin. Brüllendes Gelächter. Ich rappele mich auf, schwanke umher und schüttle mir die Spinnweben vom Kopf, und dann, genau dann, wenn die Zuschauer allmählich stutzig werden, wenn es den Anschein hat, als sei ich tatsächlich so ungeschickt, wie ich aussehe, genau dann ziehe ich die erste Nummer ab.

    ZWEITER TEIL: Es muss wie ein Unfall aussehen. Ich bin gerade wieder gestolpert, und als ich nach vorn kippe und verzweifelt das Gleichgewicht zurückzuerlangen versuche, strecke ich die Hand aus und bekomme was zu fassen. Es ist die Sprosse einer unsichtbaren Leiter, und plötzlich hänge ich in der Luft – aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Das alles geht so schnell, dass kaum zu erkennen ist, ob ich mit den Füßen abgehoben habe oder nicht. Bevor das Publikum dahinterkommen kann, lasse ich los und stürze zu Boden. Die Beleuchtung wird schwächer, erlischt ganz, der Saal ist in Dunkel gehüllt. Man hört Musik: mystische Geigen, bebend vor Staunen und Erwartung. Kurz darauf geht ein Scheinwerfer an. Er schwenkt nach links und rechts und hält dann an der Stelle, wo die Leiter steht. Ich stehe auf und suche nach der unsichtbaren Sprosse. Als meine Hände wieder an die Leiter stoßen, taste ich sie vorsichtig ab und mache ein verblüfftes Gesicht. Da ist was, das nicht da ist. Ich betaste sie noch mal, prüfe ihre Stabilität und beginne sie schließlich zu erklimmen – sehr behutsam, eine beschwerliche Sprosse nach der anderen. Jetzt ist nicht mehr daran zu zweifeln. Ich befinde mich über dem Boden, deutlich sichtbar baumeln die Spitzen meiner weißen Schuhe in der Luft. Während meines Aufstiegs weitet sich der Lichtkreis des Scheinwerfers und zerfließt zu einem gedämpften Leuchten, das am Ende die ganze Bühne erfasst. Ich komme oben an, blicke hinunter und bekomme allmählich Angst. Ich bin jetzt anderthalb Meter über dem Boden, aber was zum Teufel soll ich da? Zittrige Geigen unterstreichen meine Panik. Ich beginne den Abstieg, aber auf halbem Weg stößt meine ausgestreckte Hand an etwas Festes – ein Brett, das waagerecht in die Luft ragt. Völlig perplex streiche ich mit den Fingern über den unsichtbaren Gegenstand, und nach und nach gewinnt meine Neugier die Oberhand. Ich winde mich um die Leiter herum und krieche auf die Planke. Sie ist stark genug, mich zu tragen. Ich stehe auf und bewege mich in einem Meter Höhe langsam über die Bühne. Im Anschluss daran werden die anderen Requisiten eingesetzt. Das Brett wird zu einer Treppe, die Treppe zu einem Seil, das Seil zu einer Schaukel, die Schaukel zu einer Rutsche. Sieben Minuten lang erkunde ich diese Gegenstände, krabble und schleiche bei anschwellender Musik darauf herum und werde immer selbstbewusster. Es sieht aus, als ob ich ewig so weiterturnen könnte. Aber plötzlich verliere ich den Halt und beginne zu fallen.

    DRITTER TEIL: Ich gleite, langsam wie im Traum, mit ausgebreiteten Armen dem Boden zu. Kurz vor der Landung halte ich an. Die Schwerkraft ist ausgeschaltet; von keinem Requisit getragen, schwebe ich zwei Handbreit über dem Boden. Das Licht geht aus, und eine Sekunde später erfasst mich der Strahl eines einzelnen Scheinwerfers. Ich blicke nach unten, ich blicke nach oben, ich blicke wieder nach unten. Ich wackle mit den Zehen. Ich drehe den linken Fuß hin und her. Ich drehe den rechten Fuß hin und her. Es ist Wirklichkeit. Es ist wirklich wahr: Ich stehe in der Luft. Ein Trommelwirbel zerreißt die Stille: laut, aufdringlich, nervenzerfetzend. Er scheint entsetzliche Gefahren anzukünden, einen Angriff auf das Unmögliche. Ich schließe die Augen, breite weit die Arme aus und hole tief Luft. Das ist der genaue Mittelpunkt der Vorstellung, der alles entscheidende Augenblick. Vom Strahl des Scheinwerfers verfolgt, steige ich langsam und unwiderstehlich in einem einzigen sanften Schwung auf eine Höhe von über zwei Metern. Oben halte ich an, zähle im Kopf bedächtig bis drei und mache die Augen auf. Danach verwandelt sich alles in Magie. Es folgen, von der jetzt mit Volldampf spielenden Musik begleitet, acht Minuten Luftakrobatik: Ich sause kreuz und quer durch den Lichtkegel, mache Pirouetten, Purzelbäume und Auerbachsaltos. Eine

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