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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Minute Leerlauf haben. Das war unser Leitprinzip, das Ziel all unserer Mühen und wilden Berechnungen. Da draußen in der Provinz hatte ich die ganze Show für mich allein gehabt, eine volle Stunde oder auch mehr, wenn mir danach war. Aber das Varieté war eine ganz andere Sache. Da ich dort als einer von vielen auftreten würde, musste das Programm auf zwanzig Minuten gekürzt werden. Auf den Teich, auf die Wirkung des natürlichen Himmels, auf die Erhabenheit meiner Hundert-Meter-Ausflüge und Luftkapriolen mussten wir verzichten. Alles musste auf engeren Raum zusammengedrängt werden, aber nachdem wir uns erst mal in die Feinheiten eingearbeitet hatten, stellten wir fest, dass kleiner nicht unbedingt schlechter bedeutete. Theatersäle gaben uns diverse neue Hilfsmittel an die Hand; der Trick bestand darin, sie zu unserem Vorteil zu nutzen. Zunächst mal gab es da Scheinwerfer. Der Meister und ich berauschten uns an der Vorstellung, was für Effekte sie uns ermöglichen würden. Wir konnten in null Komma nichts aus vollständiger Finsternis auf strahlende Helligkeit umschalten – und umgekehrt. Wir konnten den Saal in trübes Dämmerlicht tauchen, wir konnten Scheinwerfer herumhuschen lassen, Farben manipulieren, mich selbst nach Belieben auftauchen und verschwinden lassen. Dann gab es die Musik, die in geschlossenen Räumen viel besser zur Geltung kommen würde. Sie würde sich nicht im Hintergrund verlieren, sie würde nicht in Verkehrslärm und Karussellgedudel untergehen. Die Instrumente würden zu einem wesentlichen Bestandteil der Show werden, sie würden das Publikum durch ein Wechselbad von Gefühlen steuern und es unmerklich zu gewissen Reaktionen veranlassen. Streicher, Blech- und Holzbläser, Trommeln: Jeden Abend würden uns Profis zur Verfügung stehen, denen wir bloß zu sagen brauchten, was sie spielen sollten. Aber das Beste war, dass die Zuschauer es bequemer haben würden. Nicht mehr abgelenkt von surrenden Fliegen und grellem Sonnenlicht, würden die Leute weniger reden und nicht mehr so schnell die Konzentration verlieren. Schweigen würde mich begrüßen, sobald der Vorhang aufging, und dann konnte die Vorstellung von Anfang bis Ende mit der Präzision eines Uhrwerks ablaufen, von den simpleren Nummern zu Beginn bis zum wildesten, atemberaubendsten Finale, das je auf einer modernen Bühne gezeigt wurde.
    So beratschlagten und überlegten wir ein paar Wochen hin und her und entwarfen schließlich einen festen Plan. «Form und Zusammenhang», sagte der Meister. «Struktur, Rhythmus und Überraschungsmomente.» Wir wollten kein Sammelsurium von Kunststückchen vorführen. Die Vorstellung sollte sich entfalten wie eine Geschichte, dann wollten wir die Spannung ganz allmählich steigern und das Publikum in immer heftigere Erregung versetzen, drum mussten wir uns die besten und spektakulärsten Nummern für den Schluss aufsparen.
    Mein Kostüm war denkbar schlicht: ein weißes Hemd mit offenem Kragen, weite schwarze Hosen und weiße Ballettschuhe. Die weißen Schuhe waren von entscheidender Bedeutung. Sie sollten den Zuschauern ins Auge springen und den größtmöglichen Kontrast zum dunklen Bühnenboden bilden. Bei nur zwanzig Minuten blieb keine Zeit für Kostümwechsel oder irgendwelche zusätzlichen Auf- und Abtritte. Das Ganze sollte kontinuierlich ablaufen, ohne Pause oder Unterbrechung, aber für uns selbst zerlegten wir es in vier Teile, an denen wir jeweils getrennt arbeiteten, als seien es vier Akte eines Theaterstücks:
    ERSTER TEIL: Ein paar verträumte Takte, gespielt von einer Soloklarinette. Die Melodie weckt Gedanken an Unschuld, Schmetterlinge, Löwenzahnblüten im Wind. Der Vorhang hebt sich, eine leere, hell erleuchtete Bühne wird sichtbar. Ich trete auf und gebärde mich in den ersten zwei Minuten als Stümper, als Trottel, als Vollidiot, der nicht bis drei zählen kann. Während ich über unsichtbare Gegenstände stolpere und auf ein Hindernis nach dem anderen stoße, gesellt sich der Klarinette ein knarrendes Fagott hinzu. Ich strauchle über einen Stein, renne mit der Nase an eine Mauer, klemme mir den Finger in einer Tür ein. Ich bin der Inbegriff des Unvermögens, ein taumelnder Tollpatsch, der sich kaum auf den Beinen halten, geschweige denn vom Boden abheben kann. Schließlich, nachdem ich mich mehrmals gerade noch gefangen habe, lande ich auf dem Bauch. Die Posaune spielt ein abfallendes Glissando, ein paar Zuschauer lachen. Wiederholung. Aber noch tapsiger als beim

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