Mr. Vertigo
Drehung geht nahtlos in die nächste über, ein Kunststück ist schöner als das andere. Das Gefühl von Gefahr ist verschwunden. Es herrschen bloß noch Freude, Euphorie und Begeisterung darüber, die Naturgesetze auf den Kopf gestellt zu sehen.
VIERTER TEIL: Nach dem letzten Purzelbaum gleite ich zu meiner Position im Zentrum der Bühne zurück, zwei Meter über dem Boden. Die Musik hört auf. Drei Scheinwerfer strahlen mich an: ein roter, ein weißer, ein blauer. Die Musik setzt wieder ein: Es erklingen Celli und Waldhörner von bewegender Schönheit. Das Orchester spielt «America the Beautiful», das beliebteste, das bekannteste aller Lieder. Mit Beginn des vierten Takts bewege ich mich nach vorn, gehe über die Köpfe der Musiker und weiter durch die Luft in den Saal hinein bis ganz zum hinteren Ende, die Augen geradeaus gerichtet, während sich die Leute unter mir den Hals verrenken und von ihren Sitzen aufstehen. An der Wand mache ich kehrt und trete ebenso gemessen und würdevoll wie zuvor den Rückweg an. Wenn ich wieder auf der Bühne bin, sind die Zuschauer eins mit mir. Ich habe sie mit meiner Anmut verzaubert, sie am Mysterium meiner göttlichen Kräfte teilhaben lassen. Ich wende mich zu ihnen um, halte noch mal kurz an und schwebe dann zu den letzten Tönen des Lieds auf den Boden zurück. Ich breite lächelnd die Arme aus. Ich verbeuge mich – nur einmal –, dann fällt der Vorhang.
Gar nicht so übel. Am Ende vielleicht ein bisschen schwülstig, aber der Meister wollte «America the Beautiful» um jeden Preis, und ich konnte ihn nicht davon abbringen. Die Idee zu der Pantomime am Anfang stammte von meiner Wenigkeit, und der Meister war von diesen Stürzen so begeistert, dass er ein bisschen über die Stränge schlug. Als Clown verkleidet würde ich dabei noch komischer aussehen, meinte er, aber ich sagte: Nein, ganz im Gegenteil. Wenn die Leute einen Witz erwarten, muss man sich viel mehr ins Zeug legen, um sie zum Lachen zu bringen. Man darf nicht von Anfang an aufs Ganze gehen; man muss sich anschleichen und sie auf dem falschen Fuß erwischen. Ich brauchte einen halben Tag, um mich in diesem Punkt durchzusetzen, aber in anderen Dingen war ich längst nicht so erfolgreich. Was mir am meisten Sorgen machte, war der Schluss – der Teil, wo ich die Bühne verlassen und über dem Publikum spazierengehen musste. Die Idee war sicher gut, aber ich hatte noch immer kein volles Vertrauen zu meinen Flugfähigkeiten. Wenn es mir nicht gelang, eine Höhe von drei Metern beizubehalten, konnten sich alle möglichen Probleme auftun. Womöglich sprang jemand auf und schlug nach meinen Beinen, und schon ein ganz leichter Treffer würde ausreichen, mich aus der Bahn zu werfen. Und was, wenn mich jemand am Knöchel erwischte und nach unten zerrte? Im Saal würde ein Tumult ausbrechen, und am Ende würde man mich noch totschlagen. Ich sah darin eine echte Gefahr, aber der Meister tat meine Bedenken einfach ab. «Du schaffst das schon», sagte er. «Vorigen Winter in Florida bist du auf dreieinhalb Meter gekommen, und ich weiß schon gar nicht mehr, wann du das letzte Mal unter drei abgesunken bist. In Alabama vielleicht, aber da hattest du eine Erkältung und warst nicht ganz bei der Sache. Du hast dich gesteigert, Walt. Du hast dich nach und nach auf jedem Gebiet verbessert. Ein bisschen Konzentration wirst du natürlich brauchen, aber drei Meter sind kein Problem mehr für dich. Das ist ganz normale Arbeit, bloß ein kleiner Spaziergang. Nichts Besonderes. Ein Versuch, und du hast die Sache im Griff. Glaub mir, Kleiner, es wird laufen wie geschmiert.»
Die schwierigste Nummer war der Leitersprung, daran habe ich mindestens so lange geübt wie an allen anderen zusammen. Der größte Teil der Darbietung bestand aus Übungen, die ich schon gut beherrschte. Die unsichtbaren Requisiten, das schnelle Aufsteigen, die Luftakrobatik – das alles war für mich längst ein alter Hut. Aber der Leitersprung war neu, und das gesamte Programm hing davon ab, dass ich ihn richtig hinbekam. Im Vergleich zu den ganzen anderen dramatischen Passagen mag das nicht besonders schwierig erscheinen – für eine Sekunde eine Handbreit vom Boden abzuheben –, aber das Problem war der Übergang, die blitzschnelle Schrittkombination, mit der ich von einem Zustand in den anderen zu kommen hatte. Ich musste von meiner tölpelhaften Stolperei auf dem Bühnenboden unmittelbar auf Abheben umschalten, und zwar in einer einzigen
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