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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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mit dem Bindu um, Walt. Heb es dir auf, bis du es wirklich mal brauchst.»
    «Was soll ich aufheben?»
    «Den Bindu. Ein indisches Wort für den Stoff des Lebens.»
    «Sie meinen den Kleister?»
    «Ganz recht, den Kleister. Oder wie immer du es nennen willst. Das Zeug hat hundert Namen, aber alle bedeuten dasselbe.»
    «Bindu gefällt mir. Der Name schlägt alle anderen.»
    «Solange du dich nicht selber schlägst, kleiner Mann. Wir haben große Tage und Nächte vor uns, da wirst du alle deine Kräfte brauchen.»
    Aber es spielte keine Rolle. Ob ich müde war oder nicht, ob ich den Bindu aufsparte oder eimerweise verschleuderte, ich kam an wie nichts Gutes. Die Zuschauer in Worcester waren sprachlos. In Springfield blieb ihnen die Spucke weg. In Bridgeport fielen sie vom Stuhl. Sogar das Missgeschick in New Haven erwies sich im Nachhinein als Segen, weil es den Zweiflern ein für alle Mal den Mund stopfte. Bei all dem Gerede über mich war es bloß natürlich, dass manche Leute Betrug witterten. Für sie war die Welt auf eine bestimmte Weise eingerichtet, und jemand mit meinen Fähigkeiten passte da eben nicht hinein. Was ich tat, verstieß gegen alle Regeln. Es sprach der Wissenschaft hohn, es stellte die Logik und den gesunden Menschenverstand auf den Kopf, es machte hundert Theorien zu Hackfleisch, und anstatt die Regeln so zu ändern, dass meine Darbietung darin Platz fand, stellten mich die Klugschwätzer und Professoren lieber als Betrüger hin. Wo wir auch hinkamen, die Zeitungen waren voll davon: Diskussionen und Debatten, Anklagen und Gegenanklagen, pro und contra bis zum Gehtnichtmehr. Der Meister hielt sich da heraus. Er stand außerhalb des Getümmels, grinste zufrieden über den steten Fluss unserer Einnahmen, und wenn ihn Reporter zu einer Erklärung drängten, war seine Antwort immer die gleiche: «Kommen Sie ins Theater und urteilen Sie selbst.»
    Nachdem sich die Kontroverse zwei, drei Wochen lang hochgeschaukelt hatte, kam es schließlich in New Haven zum großen Knall. Ich hatte nicht vergessen, dass in dieser Stadt das Yale College beheimatet war – ohne die Gräuel und Untaten vor zwei Jahren in Kansas wäre sie auch die Heimat meines Bruders Äsop geworden. Es machte mich traurig, dort zu sein, und vor der Vorstellung saß ich den ganzen Tag bedrückt im Hotelzimmer, dachte an die verrückten Zeiten, die wir zusammen durchgemacht hatten, und stellte mir vor, was für ein großer Mann aus ihm geworden wäre. Als wir schließlich um sechs zum Theater gingen, war ich mit den Nerven völlig fertig und lieferte trotz aller Mühen, mich zu konzentrieren, die lahmste Vorstellung meiner Karriere ab. Mein Timing war daneben, ich verwackelte meine Pirouetten, und meine Fliegerei war eine Schande. Als der Augenblick gekommen war, wo ich den letzten Zahn zulegen und über die Köpfe der Zuschauer schweben musste, ging die befürchtete Bombe schließlich hoch. Ich konnte die Höhe nicht halten. Mit reiner Willenskraft hatte ich es geschafft, mich auf knapp zweieinhalb Meter zu erheben, aber mehr war nicht drin, drum begann ich das Finale mit bösen Ahnungen: Ein großgewachsener Mensch mit mäßiger Reichweite brauchte nicht mal hochzuspringen, wenn er mich schnappen wollte. Und nun wurde es immer schlimmer. Auf halbem Weg über dem Orchester nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und versuchte, doch noch ein bisschen höher zu steigen. Ich erhoffte mir keine Wunder – nur ein bisschen mehr Spielraum, zwei, drei Handbreit mehr vielleicht. Ich hielt kurz an und schwebte auf der Stelle, um mich zu sammeln, schloss die Augen und konzentrierte mich auf meine Aufgabe, aber als ich mich wieder bewegte, war meine Höhe noch genauso kläglich wie zuvor. Nicht bloß, dass ich nicht aufstieg, vielmehr wurde mir nach ein paar Sekunden klar, dass ich sogar noch an Höhe verlor. Langsam, ganz langsam, aber unaufhaltsam sank ich mit jedem Meter, den ich vorankam, drei, vier Zentimeter ab – wie ein Ballon, dem durch ein Leck die Luft entweicht. Bei den hintersten Reihen angekommen, war ich auf unter zwei Meter abgesunken, eine leichte Beute selbst für den kürzesten Zwerg. Und dann ging der Spaß los. Ein glatzköpfiger Rüpel in rotem Blazer sprang von seinem Sitz und schlug mich an die linke Ferse. Der Schlag brachte mich ins Trudeln, ich kippte seitlich weg wie ein schlecht beladener Festwagen, und bevor ich wieder ins Gleichgewicht kommen konnte, traf ein anderer meinen rechten Fuß. Nach diesem zweiten Stoß war

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