Mrs Murphy 02: Ruhe in Fetzen
darauf freuen, die riesige neue Zweigstelle zu übernehmen, die an der Route 29N in Charlottesville gebaut wurde, und deshalb wollte es sich niemand mit ihm verderben. Den schlaueren Angestellten war klar, dass seine Ambitionen über die neue Zweigstelle an der 29N hinausreichten.
Dass er sich nach der Mittagspause nicht meldete, fand das kleine Team sonderbar. Um drei Uhr war Marion Molnar so beunruhigt, dass sie bei ihm zu Hause anrief. Niemand ging ans Telefon. Benjamin, der geschieden war, war oft bis in die frühen Morgenstunden unterwegs. Aber so lange hielt kein Kater an.
Gegen siebzehn Uhr machten sich alle ernsthafte Sorgen. Sie riefen Rick Shaw an. Er versprach, sich umzuhören. Fast um dieselbe Zeit wie Marion rief Yancey Mills, der Besitzer der kleinen Tankstelle, bei Shaw an. Er habe Benjamins Wagen erkannt. Er habe angenommen, mit dem Auto sei etwas nicht in Ordnung und dass Benjamin im Laufe des Tages anrufen würde. Aber jetzt sei es kurz vor Geschäftsschluss, er habe noch nichts gehört, und bei Ben zu Hause gehe keiner ans Telefon.
Rick schickte Cynthia Cooper zu der Tankstelle. Sie sah sich den Wagen an. Schien in Ordnung zu sein. Weder sie noch Rick sahen Grund zur Panik, aber sie tätigten doch die Routineanrufe. Cynthia rief Bens Eltern an. Inzwischen hatte sie ein etwas mulmiges Gefühl. Wenn sie bis morgen früh keine Spur von ihm fänden, wollten sie sich auf die Suche machen. Was, wenn Ben einen Kredit nicht bewilligt oder die Bank eine Zwangsvollstreckung durchgeführt hatte und jemand ihn dafür hatte bezahlen lassen wollen? Es schien weit hergeholt, aber schließlich war ja nichts mehr normal.
31
Es war ihr Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, aber Harry musste sich erst daran gewöhnen. Der neue Haarschnitt betonte die hohen Wangenknochen, die vollen Lippen und das kräftige Kinn, die so stark an die Hepworths, die Familie ihrer Mutter, erinnerten. Auch die klaren braunen Minor-Augen blickten sie an. Wie jedermann in Crozet vereinte Harry die Züge der Eltern in sich, ein genetisches Zeugnis für das Roulette der menschlichen Fortpflanzung. Das Glück blieb Harry gewogen. Für andere, darunter manche Freunde, galt das nicht. In einer Familie in Crozet wurde eine nach der anderen von Multipler Sklerose heimgesucht; andere konnten den Zangen des Krebses nicht entkommen, wieder andere hatten einen ausgeprägten Hang zu Alkohol oder Drogen geerbt. Je älter Harry wurde, desto mehr fühlte sie sich vom Glück begünstigt.
Während sie ihr Spiegelbild betrachtete, dachte sie an ihre Mutter, die vor ebendiesem Spiegel gesessen hatte, die Farbtiegel aufgestellt, die Lippenstifte in Reih und Glied wie untersetzte Soldaten, die Puderquasten lauernd wie pfirsichfarbene Tellerminen. Sosehr Grace Hepworth Minor ihrem einzigen Kind zuredete, schmeichelte, sosehr sie es bestach – Harry hatte sich der Verlockung femininer Künstlichkeit standhaft verweigert. Sie war damals zu jung, um ihre eiserne Ablehnung der kommerzialisierten Weiblichkeit in Worte zu fassen. Sie wusste lediglich, dass sie das nicht wollte, und niemand konnte sie von dieser Haltung abbringen. Im Laufe der Jahre bewährte sich diese instinktive Ablehnung. Harry fand, dass sie sauber und ordentlich, gesund und anziehend aussah. Ein Mann, der den ganzen falschen Kram brauchte, war in ihren Augen kein richtiger Mann. Sie wollte um ihrer selbst willen geliebt werden und nicht dafür, dass sie einen Haufen Geld ausgab, um der landläufigen Definition von Weiblichkeit zu entsprechen. Allerdings hatte Harry es auch nie für nötig befunden zu beweisen, dass sie feminin war. Sie fühlte sich feminin, und das genügte ihr. Ihm sollte es auch genügen. Und Fair hatte es ja auch eine Weile genügt.
In dieser Hinsicht waren Boom Boom und Harry die entgegengesetzten Pole der Philosophie der Weiblichkeit. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie sich nicht riechen konnten. Boom Boom gab jeden Monat durchschnittlich tausend Dollar für ihre Instandhaltung aus. Sie ließ sich zupfen, färben, massieren. Sie war überschwemmt mit Nährstoffen, die auf ihren besonderen Hormonbedarf abgestimmt waren. Das stand zumindest auf den Flaschen. Sie hielt ständig Diät. Sie fand nichts dabei, zum Einkaufen nach New York zu fliegen. Dann trudelten die gepfefferten Rechnungen ein. Ein Paar Krokoschuhe von Gucci kostete 1200 Dollar. Gepflegt, hochmodisch und bestrebt, jeglichen Makel, ob echt oder eingebildet, zu überdecken,
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