Mrs Murphy 02: Ruhe in Fetzen
Wie die Dinge lagen, hatte sie mit ihrem eigenen Leben zu kämpfen.
Neuerdings fürchtete Harry die kommenden Jahre. Früher war die Zeit ihre Verbündete gewesen. Jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher. Wenn der Tod einen jeden Moment krallen kann, dann sollte man das Leben lieber voll auskosten. Das Schlimmste wäre, ins Grab zu gehen, ohne gelebt zu haben.
Die Fingerspitzen kribbelten ihr von der schneidenden Nachtluft, und ihre Zehen schmerzten. Sie pfiff nach Tucker und Mrs Murphy und machte sich auf den Weg ins Haus.
Harry hatte kein introvertiertes, nachdenkliches Naturell. Sie liebte ihre Arbeit. Sie liebte es, die Früchte ihrer Arbeit zu sehen. Tiefschürfende Gedanken und philosophische Betrachtungen überließ sie anderen. Aber nach der heutigen Erschütterung war Harry in sich gekehrt, und sie war durchströmt vom Leben in seiner ganzen Traurigkeit und Harmonie.
36
Ein fürchterliches Spektakel draußen weckte Mrs Murphy und Tucker. Mrs Murphy lief ans Fenster.
»Das sind Simon und die Waschbären.«
Tucker bellte, um Harry zu wecken, denn bei dieser Kälte hielt Harry die Hintertür fest geschlossen, und sie konnten nicht hinaus auf die vergitterte Veranda. Deren Tür ließ sich leicht öffnen; wenn Harry nur die Hintertür aufmachte, konnten sie nach draußen.
»Lass mich in Ruhe, Tucker«, stöhnte Harry.
»Aufwachen, Mom. Komm schon.«
»Verdammter Mist.« Harrys Füße berührten den kalten Boden. Sie dachte, der Hund bellte ein Tier an oder müsste mal austreten. Sie polterte die Treppe hinunter und öffnete die Hintertür, und beide Tiere sausten hinaus. »Geht nur und friert euch die Ärsche ab. Ich lass euch nicht wieder rein.«
Katze und Hund hatten keine Zeit, ihr zu antworten. Sie flitzten zu Simon, der von zwei maskierten Waschbären gegen die Stallwand gedrückt wurde.
»Das gibt’s doch wohl nicht!«, bellte Tucker.
Mrs Murphy, das Fell gesträubt bis zum Äußersten, die Ohren flach angelegt, fauchte und heulte: »Ich kratz euch die Augen aus!«
Die Waschbären hatten keine Lust zu kämpfen und trollten sich.
»Danke«, keuchte Simon mit bebenden Flanken.
»Was war denn los?«, fragte Mrs Murphy.
»Blair hat Marshmallows rausgestellt. Die mag ich so gern. Diese Ekelpakete leider auch. Sie haben mich gejagt.« Ein Blutstropfen sickerte aus Simons Nase. Am linken Ohr blutete er auch.
»Bist ja ganz schön lädiert. Wollen wir auf den Heuboden gehen?«, schlug Mrs Murphy vor.
»Ich hab noch Hunger. Hat Harry Reste rausgestellt?«
»Nein. Sie hatte einen schlimmen Tag«, antwortete Tucker. »Die Menschen haben heute wieder eine Leiche gefunden.«
»In Fetzen?« Simon war neugierig.
»Das nicht, aber die Geier waren dran.« Mrs Murphy zitterte, als ein Windstoß kam. Es fühlte sich an wie achtzehn Grad unter null.
»Ich hab mich immer gefragt, was Vögel an den Augen finden. Da gehen sie als Erstes dran: an die Augen und den Kopf.« Simon rieb sich das Ohr, das zu brennen begonnen hatte.
»Lasst uns reingehen. Kommt. Es ist scheußlich hier draußen.«
Sie zwängten sich unter dem großen Scheunentor hindurch. Simon blieb stehen, um ein paar Körner aufzulesen, die Tomahawk und Gin Fizz hatten fallen lassen. Da die Pferde schlampige Esser waren, konnte Simon sich über die Nachlese hermachen.
»Das dürfte bis morgen vorhalten.« Das graue Opossum setzte sich hin und drapierte seinen rosa Schwanz um sich herum. »Kommt rauf, oben im Heu ist es warm.«
»Ich kann die Leiter nicht raufklettern«, winselte Tucker.
»Ach ja, das hatte ich vergessen.« Simon rieb sich die Nase.
»Gehen wir in die Sattelkammer. Da ist die alte schwere Pferdedecke drin, die Gin Fizz zerrissen hat. Sie hat ein Wollfutter, da können wir uns reinkuscheln.«
»Sie hängt auf dem Sattelgestell«, rief Tucker.
»Ja? Dann schubs ich sie runter.« Schon hakte Mrs Murphy ihre Krallen unter die Unterseite der Tür. Diese, alt und verzogen, gab etwas nach, und die Katze klemmte ihre Pfote dahinter. Tucker hielt unterdessen die Nase am Boden, um zu sehen, ob sie helfen konnte. Nach einer Minute ging die Tür quietschend auf. Die Katze sprang auf das Sattelgestell, grub ihre Krallen in die Pferdedecke und beugte sich damit nach vorn. Sie kam mit der Decke herunter. Die drei kuschelten sich nebeneinander hinein.
Geplagt von ihrem schlechten Gewissen, weil sie ihre Lieblinge draußen gelassen hatte, eilte Harry am nächsten Morgen in die Scheune. Sie wusste, dass sie sie dort finden
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