Mrs Murphy 02: Ruhe in Fetzen
einzigen Hinweis, nicht das geringste Anzeichen für ein Motiv haben. Haben wir es mit einem Irren zu tun, der bei Vollmond zuschlägt? Ist es jemand, der eine alte Rechnung zu begleichen hatte? Soll mit dieser Tat etwas anderes vertuscht werden? Etwas, das wir uns nicht im Entferntesten vorstellen können? Meine innere Stimme rät mir, wachsame Blicke in alle Richtungen zu werfen.«
Das ließ die Runde einen Moment lang verstummen.
»Sie haben recht.« Herbie stellte seinen Teller auf den Couchtisch. »Und ich schließe nicht aus, dass etwas Satanisches im Spiel sein könnte. Ich habe bisher nichts davon gesagt, weil es so beunruhigend ist. Aber gewisse Kulte verüben Ritualmorde, und die Art, wie sie ihre Opfer töten, ist Teil des Rituals. Wir haben eine zerstückelte Leiche, und wir wissen nicht, wie Ben gestorben ist.«
»Wissen wir, wie der andere Mann gestorben ist?«, fragte Little Marilyn.
»Durch einen Schlag auf den Kopf«, klärte Ned Tucker sie auf. »Larry Johnson hat die Autopsie vorgenommen, und ich habe ihn anschließend getroffen. Herbie, ich glaube nicht, dass bei satanischen Kulthandlungen Köpfe eingeschlagen werden.«
»Nein, bei den meisten nicht.«
»Damit wären wir wieder da, wo wir angefangen haben.« Fitz stand auf, um sich noch einen Nachtisch zu holen. »Wir sind nicht in Gefahr. Ich wette, wenn die Behörden Bens Bücher überprüfen, werden sie Unregelmäßigkeiten finden. Oder einen zweiten Satz Bücher.«
»Selbst wenn wir es mit einer Veruntreuung von Geldern zu tun haben, wissen wir trotzdem nicht, wer Ben oder den anderen Mann umgebracht hat«, stellte Susan fest.
»Diese Morde haben etwas mit Satan zu tun«, tönte Mrs Hogendobbers klare Altstimme. »Der Teufel hat seine langen Krallen in jemanden gesenkt, und, verzeihen Sie den Ausdruck, jetzt ist die Hölle los.«
35
Lange Schatten fielen auf die Gräber von Grace und Cliff Minor. Die Sonne ging unter, ein goldenes Orakel, dessen Flammenzungen von den Blue Ridge Mountains emporleckten. Scharlachrot stiegen die Streifen zum Firmament, dann wechselten sie die Farbe, wurden golden, goldrosa, lavendelblau, purpurn und schließlich preußischblau, der erste Kuss der Nacht.
Harry hatte sich ihren Schal um den Hals gewickelt und betrachtete das letzte Spiel der Sonne an diesem Tag. Mrs Murphy und Tucker saßen zu ihren Füßen. Die schmerzende Melancholie des Sonnenuntergangs durchstach sie wie mit Nadeln. Sie betrauerte den Verlust der Sonne; sie wollte baden in Fluten von Licht. Immer, wenn es dämmerte, ließ sie ihre Arbeit für einen Augenblick ruhen, um sich zu versichern, dass die Sonne morgen wiederkehren würde wie neugeboren. Und heute Abend regte sich dieselbe Hoffnung, doch mit größerer Anstrengung. Die Zukunft ist stets blind. Die Sonne würde sich erheben, aber würde auch sie, Harry, sich erheben?
Kein Mensch glaubt, dass er sterben wird; weder ihre Mutter noch ihr Vater hatten es geglaubt. Es ist wie beim Fangenspiel mit Abschlagen – der Tod »ist«, er jagt umher, berührt Menschen, und sie fallen um. Bestimmt würde sie aufstehen, wenn es tagte, ein neuer Tag würde sich entfalten wie eine aufblühende Rose. Aber hatte Ben Seifert das nicht auch geglaubt? Den Verlust eines Elternteils, schmerzlich und zutiefst erschütternd, empfand Harry anders als den Verlust eines Gleichaltrigen. Benjamin Seifert hatte ein Jahr vor Harry an der Crozet High School den Abschluss gemacht. Diesmal hatte der Tod jemanden geholt, der ihr nahestand – zumindest was das Alter betraf.
Ein schreckliches Gefühl von Verlassenheit überkam Harry. Unter diesen Grabsteinen lagen die zwei Menschen, die ihr das Leben geschenkt hatten. Sie erinnerte sich an ihre Belehrungen, sie erinnerte sich an ihre Stimmen, und sie erinnerte sich an ihr Lachen. Wer würde sich an sie erinnern, wenn Harry nicht mehr da wäre, und wer würde die Erinnerung an ihr eigenes Leben bewahren? Jahrhundert um Jahrhundert torkelte die Menschheit zwei Schritte vorwärts und einen zurück, aber immer gab es gute Menschen, komische Menschen, starke Menschen, und die Erinnerung an sie wurde mit den Jahren ausgelöscht. Königen und Königinnen wurde eine Erwähnung in den Chroniken zuteil, aber was war mit den Pferdetrainern, den Bauern, den Näherinnen? Und mit den Posthalterinnen und Postkutschenfahrern? Wer bewahrte die Erinnerung an ihr Leben?
Einsamkeit übermannte Harry. Wenn sie gekonnt hätte, sie hätte jedes Leben umarmt und hochgehalten.
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