Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
und unser Hund zum vermutlich einzigen rein vegetarisch fressenden Hund von ganz Southern Indiana.
Das Thanksgiving-Essen hatte damals wirklich nett begonnen. Ich hatte mein bis dato bestes Festmahl bereitet, und alle waren begeistert. Wir scherzten und futterten und feierten, dass Rudy wieder einmal zu Hause war. Mein Bruder war nach Indianapolis gegangen, sobald er die Highschool beendet hatte, also sahen wir ihn nur selten, und meine Jungs kannten ihren Onkel kaum. Alle hatten Spaß, außer Mama, die den ganzen Nachmittag über gereizt und abwesend wirkte. Im Laufe des Essens wurde sie immer fahriger, murmelte vor sich hin und blaffte jeden an, der sie fragte, was denn eigentlich los sei. Schließlich sprang sie auf und schleuderte den Butterteller in eine Ecke des Esszimmers. Sie schrie: »Gottverdammt und zur Hölle!« Meine Mutter konnte sehr farbenfroh fluchen, wenn sie sich wirklich aufregte. »Gottverdammt und zur Hölle! Jetzt hab ich aber endgültig genug von dir, Eleanor Roosevelt. Niemand hat dich eingeladen, und jetzt wird es wirklich Zeit, dass du verschwindest.« Sie wedelte drohend mit dem Zeigefinger in Richtung Zimmerecke, wo das Stück Butter, an dem noch immer der avocadogrüne Plastikteller klebte, langsam die Wand hinunterrutschte. Er hinterließ einen glänzenden Abdruck, wie die Spur einer rechteckigen Schnecke.
Mama blickte in die verwunderten Gesichter rund um den Tisch und sagte: »Schaut mich nicht so an. Sie mag ja vielleicht die perfekte kleine Lady gewesen sein, als sie noch im Weißen Haus war – ganz Rüschenpüppchen und Fingerschälchen –, aber seit sie tot ist, hat sie nichts Besseres zu tun, als ständig stockbesoffen hier aufzukreuzen und Stunk zu machen.«
Später bekam meine Mama auch Besuch von Jackie Onassis, aber die benahm sich viel besser.
Papas Reaktion auf Mamas Geistervisionen beschränkte sich auf den erfolglosen Versuch, sie dazu zu überreden, einen Arzt aufzusuchen. James und ich machten uns insgeheim Sorgen um sie, taten vor den Kindern jedoch so, als wäre an ihrer Großmutter nichts Seltsames. Rudy beschloss wohl, dass Indianapolis noch nicht annähernd weit genug von seiner durchgeknallten Familie entfernt war, und zog einen Monat später nach Kalifornien. Dort lebt er seitdem.
Mama langte über den Küchentisch und stupste mich am Arm. »Hör mal, das wird dir gefallen«, sagte sie. »Du weißt doch diese Frau, mit der Earl zusammengelebt hat?« Bei »dieser Frau« handelte es sich um Earls zweite Ehefrau, Minnie. Mama konnte Miss Minnie nicht ausstehen, und so weigerte sie sich, ihren Namen auch nur auszusprechen, geschweige denn ihre Ehe mit Big Earl anzuerkennen.
»Thelma sagt, diese Frau hat einen Springbrunnen im vorderen Zimmer aufgestellt, wo Thelma und Earl früher immer ihre Hi-Fi-Anlage stehen hatten. Kannst du dir das vorstellen? Erinnerst du dich noch, wie gut diese Anlage war? Die beste, die ich je gehört habe. Und sie haben ein Jahr dafür gespart. An die Partys, die wir in diesem Haus gefeiert haben, werden wir sicher noch lange denken.«
Auch James mochte Big Earl. Earl McIntyre war das, was für James am nächsten an einen Vater herankam. James’ richtiger Vater war ein mieser Typ gewesen, ein echter Kotzbrocken, der ihn und seine Mutter sitzenließ, als James noch ein kleiner Knirps war. Er blieb gerade so lange, um ein paar hässliche Narben zu hinterlassen, und verduftete dann aus der Stadt. So entkam er dem langen Arm des Gesetzes gerade noch rechtzeitig und konnte woanders noch mehr Schaden anrichten. Die sichtbare Narbe, die James davongetragen hatte, war eine halbmondförmige, wulstige, ledrige Linie am Kinn vom Hieb mit einer Rasierklinge, der eigentlich seiner Mutter gegolten hatte. Die tieferen, unsichtbaren Narben, die er bei James hinterlassen hatte, sah niemand außer mir. Mir und Big Earl.
Nachdem James’ Vater sich davongemacht hatte, sorgten Big Earl und Miss Thelma dafür, dass James’ Mutter immer genug zu essen auf dem Tisch hatte. Als das All-You-Can-Eat , das erste von Schwarzen geführte Geschäft im Zentrum von Plainview, Mitte der 1950er Jahre eröffnet wurde, und Big Earl sicher noch keinen Penny daran verdiente, stellte er James’ Mutter als erste Mitarbeiterin ein. Und sie bezahlten sie auch noch weiter, lange nachdem ein Emphysem ihr das Arbeiten unmöglich gemacht hatte. Was aber noch wichtiger war, die McIntyres hatten immer ein Auge auf James, damit er nicht so endete wie sein Vater. Dafür würde
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