Muckefuck
stellte Großmutter ihre Kaffeetasse mit einem Krach auf den Tisch, stand auf und sagte bissig:
»Vom Eieraussaufen wird man wohl klüger!«
Sie ging in ihr Zimmer und bestellte per Postkarte zwanzig weiße Leghorns.
Später, nach Onkel Adolars Tod, bedauerte Großmutter diese Szene oft. Viel später pflegte sie allerdings wieder zu sagen: »Adolar? Er wusste zu viel über Hühner!«
Wenige Monate trennten uns noch von jenem ersten September, an dem der Polenfeldzug begann. Wir spielten Frieden auf Teufel komm raus. Großmutter verschanzte sich hinter der Hühnerzucht, entwickelte sogar im Laufe der Zeit einen neuen ernsthaften Tick, indem sie beim Essen aufstand, um in den Stall zu gehen und die Hühner hinten abzufühlen, ob Eier zu erwarten seien. Ede spielte immer noch Taxiunternehmer. Obwohl sie ihm eine Lizenz nach der anderen wegnahmen. Meine Mutter lag, Migräne vorschützend, auf der Chaiselongue und knabberte Konfekt. Und ich selbst, in Braunhemd und Ribbelsamthose, linientreuer Pimpf mit gutem Gedächtnis für zackige Liedertexte? Ich atmete die frische Luft des Birkenwäldchens. Ich trug die mit schwarzen Flammenzungen bemalte Trommel, paukte den Fünferschlag aufs Kalbfell: »Bum, – bum, bumbumbum. – Unter der Fahne – schrei-heiten wir.« Neue Lieder sang Jungzugführer Kulle Rosenbusch mit uns. Lieder, die uns nun lehrten, dass die Fahne mehr als der Tod sei. Ich dachte an unsere Fahne zu Hause, den kleinen roten Fetzen, der sich so leicht um die Fahnenstange wickelte. Und an das noch kleinere Fähnchen von Herrn Reh, aufbewahrt im Besenschrank. An diesen beiden Fahnen gemessen war der Tod nicht viel.
Geländefalten, frisch eingesätes Grün. Brombeergebüsch, die ersten kleinen Beeren schimmerten unreif blassgelb. Unter dem Bahndamm führte eine enge Röhre hindurch, Kulle Rosenbusch stand da, Fahrtentasche am Koppel. Vollgepfropft war sie mit Karte, Kompass, Hitlerjugendgesangbuch und Notizblock. Blau leuchteten Kulles Augen, Wikingerblick, wie sollte es anders sein. Sogar Othmar, der zarte Knabe, war ja zum Jomswikinger geworden. »Entfernungsschätzen«, schnarrte Kulle. »Das erste Glied bildet eine Kette, jeder mit fünf Schritt Abstand vom nächsten.«
Befehle, deren markante Kürze die Nation einte, von Schleswig-Holstein meerumschlungen bis zum Burgenland.
Wir schätzten. Mit Telegrafenstangen ging es leicht. Die hatten einen bestimmten Abstand, man brauchte nur zu zählen. Aber sonst gab es viele Möglichkeiten, sich zu verschätzen. Kulle ließ nicht locker. Er machte aus uns perfekte Entfernungsschätzer.
War der Sonntagsdienst beendet, so fuhr ich mit Ede aufs Land. Wir hatten jetzt eine wundervolle Ausrede: Hühnerfutter besorgen. Bald kannten wir viele Bauern in den kleinen Dörfern vor der großen Stadt. Bauern in Häusern mit Strohdächern und mit Pferden im Stall, denn Traktoren gab es damals noch kaum. Zu einem Bauern gingen wir besonders gerne. Sein Haus war auf moorigem Boden gebaut. Im Laufe der Zeit war der hintere Teil versunken. Die Fußböden in einigen Räumen waren unglaublich schräg. Um das wieder auszugleichen, besaßen die Möbel verschieden lange Beine, die Tische, die Stühle, und ganz hinten in der Kammer auch das Bett. In diesem Bett saß einmal, als wir kamen, ein weißbärtiger Großvater zwischen rot karierten Plümos. Er war neunzig und starb gerade. Aber er war ganz fröhlich dabei. Währendwir auf den Stühlen mit den verschieden langen Beinen um ihn herumsaßen, verlangte er drei große Schlackwurstbrote. Die Bäuerin brachte sie. Er schnitt sich Reiterchen und aß die Brote in kurzer Zeit. Am nächsten Tag war er tot. Mit Hühnerfutter an Bord kehrten wir von unseren Landausflügen zurück. Die Leghornzucht war gediehen in den Stunden unserer Abwesenheit, wir rochen es, weil Großmutter schwache Küken in der Küche aufzog. Aber immerhin verbreiteten wir etwas Gegengeruch: nach Bauernstuben, Kleie und Rieselfeldern.
Dann wieder Antreten: »Die Fahne hoch, marschiert! Voran der Führer führt!« Im Gänsemarsch zogen wir hinter unserem Wimpel her, durch den knöcheltiefen Sand im Birkenwäldchen.
Kulle Rosenbusch, neben uns, gab den Schritt an. Seine randgenagelten Schuhe wirbelten Staub auf, der sich trocken in die Nasenlöcher setzte. Wir sangen trotzdem, was die Lungen hergaben, auch O du schöner Westerwald oder Am Mühlenberg von Sanssouci und Schwarzbraun ist die Haselnuss mit der Strophe Löcher hat der Schweizerkäs.
»Zwei
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