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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
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waren. War es denkbar, dass sie in Wahrheit noch grausamer waren als Männer?
    Manchmal konnte ich in diesem Urlaub Teresa, Emma und Jane völlig vergessen, ihre Schläge und Beleidigungen und den Schmerz ihrer Tritte. Ich konnte vergessen, dass Dad aus meinem Leben verschwunden war, wo ich ihn doch so nötig brauchte. Wenn Mum und ich in einem der eiskalten Seen schwammen und vor Kälte kicherten, schrien und juchzten, oder wenn ich mit ihr einen schmalen Bergpfad hinaufstieg und Kühe aufscheuchte, konnte ich die schmerzlichen Einzelheiten meines Lebens vergessen und glücklich sein.
    Doch der September kam viel zu schnell. Als der Schulbeginn näherrückte, wurde ich kraftlos, bekam Kopfschmerzen und Fieber. Wann immer ich an die Schule dachte, spürte ich ein wütendes Brennen im Magen. Ich hatte keinen Appetit und musste beim Essen gegen die Übelkeit ankämpfen. Ich zwang mich, meinen Teller leer zu essen, damit Mum nichts merkte. Ich konnte mich auf nichts mehr konzentrieren. Keine zwei Zeilen hintereinander lesen.
    Am Abend, bevor die Schule anfing, lag ich im Bett und konnte nicht einschlafen. Ich versuchte, mich für das Kommende zu wappnen. Nächstes Jahr stand die Abschlussprüfung an. Wenn ich gut war, könnte ich auf der Schule bleiben und ernsthaft auf ein Studium hinarbeiten. Die betreffenden Mädchen hatten sicher keine Lust, weiterzumachen, und würden nach der Prüfung abgehen. Das bedeutete, dass ich nur noch ein Schuljahr überstehen musste
(ganz still verhalten, hoffentlich nicht gesehen werden, an den Fußleisten entlanghuschen und nach einem sicheren Versteck suchen)
, und dann wäre alles vorbei. Ich war zuversichtlich, dass ich noch ein Jahr überstehen konnte.
    Es schien sogar denkbar, dass das Mobbing aufhörte, dass die sechs Wochen Sommerferien den Impuls gebrochen hatten, so wie eine Feuerschneise einen heftigen Waldbrand stoppen kann. Immerhin mussten sie auch ihre Prüfungen ablegen, und obwohl sie kein Interesse daran hatten, weiterzumachen und auf die Universität zu gehen, brauchten sie gute Noten, um anständige Jobs zu finden. Vielleicht würden sie sich mehr darauf als auf mich konzentrieren. Vielleicht würde das Mobbing weniger. Vielleicht würde es ganz aufhören. Vielleicht …
     
    Natürlich lag ich falsch. Vom ersten Tag an ging das Mobbing weiter. Sie schienen es wie eine Droge vermisst zu haben und wollten die verlorene Zeit wieder gutmachen.
    Es steigerte sich sogar noch.
    Pflichtschuldig verzeichnete ich meine entsetzten Telegramme von der geheimen Kriegsfront im Tagebuch – meinem Tagebuch, das im Sommer so herrlich leer geblieben war.
    September: Teresa hat mich auf der Mädchentoilette ins Gesicht geboxt. Bekam schlimmes Nasenbluten, das nicht aufhörte. Erzählte Mum, ich sei im Flur gestolpert … Sie hielten mich fest, und Teresa zog mir Bluse und BH hoch und machte ein Video mit ihrem Handy. Sie sagte: »Ab heute sind deine hässlichen Titten bei YouTube zu sehen« … Sie schoben mich gegen die Toilettenwand und spuckten mir abwechselnd ins Gesicht …
     
    Oktober: Teresa hat mich mit ihrer Tasche auf den Kopf geschlagen, als ich Wasser getrunken habe. Tiefer Schnitt im Gaumen … Sie warteten nach der Schule auf mich und schlugen mich. Teresa hat sich auf mich gesetzt und mir ins Gesicht gefurzt. Als ich nach Hause kam, musste ich mich zweimal übergeben. Konnte gerade noch alles sauber machen, bevor Mum kam …
    Ein Vorfall Ende Oktober zeigte mir, dass ich ein ganzes Jahr niemals schaffen würde – nicht einmal das
erste Halbjahr
.
    Eines Morgens nach der Pause bemerkte ich einen seltsamen Geruch an meinem Pult – einen leicht säuerlichen Geruch, der im Verlauf des Tages schlimmer zu werden schien. Er schien aus meiner Sporttasche zu kommen. Zu Hause kippte ich die Tasche im Wohnzimmer aus. Vielleicht war mein Handtuch muffig, oder ich hatte eine schmutzige Socke übersehen. Doch meine Sportsachen rochen alle sauber. Ich tastete in der ganzen Tasche herum, konnte aber nichts finden. Ich war ratlos. Aber der widerliche Geruch war immer noch da.
    Ich wollte gerade unter die Sohle meines Turnschuhs schauen, als etwas aus dem Schuh auf mein nacktes Bein fiel. Als ich die blinden schwarzen Augen, den klaffenden Schnabel und die starren Krallen sah, konnte ich nur noch schreien und strampeln, bis es auf den Boden fiel. Ich trat es in eine Ecke, umschlang meine Knie und schluchzte hemmungslos. Ich wiegte mich wie eine Wahnsinnige hin und her. Es

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