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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
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hatte
ich
es geschafft, mein Gleichgewicht wiederzufinden – warum zum Teufel konnte
sie
das nicht auch?

34
    Am Montag, dem 22 . Mai, drei Wochen vor meinen Prüfungen, startete ich mein intensives Wiederholungsprogramm, das ich schon vor langer Zeit mit rotem Kugelschreiber in meinen Wandkalender eingetragen hatte. Dazu gehörte, dass ich morgens um sieben aufstand und mindestens zwei Stunden lernte, bevor Roger um zehn Uhr kam. Abends hörte ich nicht auf, wenn Mum nach Hause kam, sondern arbeitete von fünf bis neun und nahm dann ein spätes Abendessen mit ihr ein. Eigentlich hatte ich vorgehabt, auch am Wochenende zu lernen, doch Mum bestand auf einem freien Tag in der Woche. Daher arbeitete ich den ganzen Samstag und machte sonntags frei.
    Da ich hauptsächlich auswendig lernen musste – eine trockene Arbeit, für die ich meine ganze Konzentration brauchte –, beschloss ich, alle Bücher und Unterlagen aus dem Esszimmer nach oben zu bringen. Dort wäre ich nicht so abgelenkt – durchs Telefon oder meine Mutter, die hin und her lief und nach der Schere suchte, die sie zum x-ten Mal verlegt hatte, oder mit dem Kugelschreiber klickte, während sie im Wohnzimmer ihre Unterlagen durchging. Auch käme ich nicht in Versuchung, mir einen Kaffee oder ein Sandwich zu machen.
    Also saß ich oben in meinem Zimmer und schmorte vor mich hin. Ein Ende der Hitzewelle war nicht in Sicht. Ich zwang mich, lange Passagen aus
Macbeth
und seitenweise unregelmäßige französische Verben auswendig zu lernen. Ich wiederholte sie wieder und wieder mit geschlossenen Augen, lernte das Boyle-Marriott’sche Gesetz und die allgemeine Gasgleichung, das Ohm’sche Gesetz und das Archimedische Prinzip im genauen Wortlaut. Ich arbeitete mich durch eine Packung Taschentücher nach der anderen und schluckte die Antihistamine, die Dr. Lyle mir verschrieben hatte, während ich die genauen Daten des Reichstagsbrandes, der Besetzung des Ruhrgebietes, des Kellogg-Briand-Paktes, des Hitlerputsches von 1923 und des Marsches auf Rom paukte. Die Schwalben segelten um die Nester vor meinem Fenster, und ich lernte Statistiken über die brasilianische Kaffeeproduktion und die jährliche Abholzung des Regenwaldes auswendig, bis ich sie ohne einen Blick auf meine Unterlagen aufsagen konnte.
    Es war erst sechs Wochen – sechs kurze Wochen – her, dass Mum und ich Paul Hannigan getötet hatten, und schon dachte ich fast nur noch an meine Prüfungen. Nur ab und zu schweiften meine Gedanken von den Schulbüchern ab und wanderten zu der Leiche, die unter den Rosensträuchern verweste.
     
    Trotz meiner Zweifel dachte ich inzwischen wie Mum. Wir hatten einfach zu viele Filme gesehen, in denen der Schuldige gefasst wurde. Letztlich hatte ich wohl akzeptiert, dass sie recht hatte.
Wir waren damit durchgekommen.
    Wenn die Polizei bis jetzt nicht bei uns aufgetaucht war, würde sie niemals kommen. Sie musste mittlerweile Paul Hannigans Auto gefunden haben – es konnte unmöglich wochenlang auf dem Parkplatz stehen, ohne dass jemand es bemerkte. Und nach fast zwei Monaten musste jemand Paul Hannigan als vermisst gemeldet haben. Jemand musste sich Sorgen um ihn gemacht haben. Hatte nicht sein Handy an ebenjenem Morgen geklingelt? Die Polizei musste inzwischen Bescheid wissen …
    Die einzig mögliche Schlussfolgerung war, dass Mum recht gehabt hatte – die Polizei hatte keine Verbindung zwischen seinem Verschwinden und uns hergestellt, und das würde aller Wahrscheinlichkeit nach auch niemals passieren.
    Selbst wenn die Polizei jetzt zu uns gekommen wäre, hätte sie nichts gefunden. Die Küche war so oft geputzt und desinfiziert worden, dass man nicht die geringste Spur seines Blutes oder den Schatten eines Fingerabdrucks finden würde. Die acht Müllbeutel waren aus dem Gästezimmer verschwunden, und das Versteck, das Mum für sie gefunden hatte, war so genial und perfekt, dass die Polizei sie niemals entdecken würde.
    Wir hatten Glück gehabt. Wir hatten großes Glück gehabt. Wir hatten einen Menschen getötet. Wir hatten ihn auf dem Boden unserer Küche erstochen und erschlagen.
Und waren damit durchgekommen.

35
    Es war Samstag, der 27 . Mai. Ich stand um sieben auf, wie es mein Übungsplan verlangte, zog den Bademantel an und schlüpfte leise aus meinem Zimmer. Ich wollte mir schnell einen Kaffee machen, bevor ich mit der Arbeit anfing. Vor Mums Schlafzimmertür blieb ich stehen und horchte. Ich konnte ihren tiefen, regelmäßigen Atem hören

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