Mucksmäuschentot
Bolognese. An einem Sonntagmorgen pflückten wir Kirschen im Garten und backten einen wunderbaren Kuchen, zu dem wir Vanilleeis aßen, genau wie wir es geplant hatten, bevor der ungebetene Gast zu uns kam. Wir liehen wieder DVDs aus und schauten uns an einem Samstagabend zwei Filme mit George Clooney an
(O Brother, Where Art Thou?
und
Ein verlockendes Spiel)
, wobei wir eine Riesenschüssel Butterpopcorn verschlangen.
Bei unseren wöchentlichen Einkaufstouren in die Stadt ersetzen wir nach und nach alles, was wir tief im Schacht entsorgt hatten: Wir kauften neue Vorhänge für die Küche, neue Geschirrtücher, einen neuen Wischmop mit Eimer. Wir wählten instinktiv Gegenstände, die sich von den alten so weit wie möglich unterschieden: eine dünne Fußmatte aus Gummi statt aus Kokosfaser, knallbunte, beinahe grelle Gummistiefel statt schwarze. Und Mum kaufte kein Schneidbrett aus Marmor, sondern bestand auf einem billigen Plastikding vom Discounter.
Jede Lücke wurde ausgefüllt – neue Badetücher, neue Nachthemden, neue Bademäntel. Es war, als würde unser Zuhause vollkommen neu gestaltet und geheilt, und ich war überrascht, dass auch
ich
mich dadurch geheilt fühlte. Mir war nie bewusst gewesen, wie wichtig diese kleinen Dinge für unser Leben waren. Das Bild wurde vollständig, als Mum den Schornstein des strohgedeckten Häuschens in der Schale mit der Duftmischung fand und ihn eines Abends am Esstisch geduldig anklebte.
Die blauen Flecken an meinem Hals verblassten allmählich, und ich konnte schließlich auf die Tücher verzichten, die ich immer getragen hatte, wenn Roger und Mrs Harris bei uns waren. Auch der Bluterguss an meinem Steißbein schrumpfte zusammen, bis nur ein münzgroßer grauer Fleck übrigblieb, der letztlich auch verschwand. Seltsamerweise zeigten auch meine Narben echte Anzeichen der Besserung. Die Verbrennungen an meiner linken Hand und am rechten Ohr waren so gut wie unsichtbar geworden, nur bei ganz heller Beleuchtung erkannte man noch die schimmernden Flecken. Die Narben an meiner Stirn und am Hals verblassten von Kaffeebraun zu Honig und waren viel unauffälliger als zuvor.
Mit den körperlichen Verletzungen heilten auch meine seelischen Wunden. Die Bilder in meinem Kopf wurden schwächer und schwächer. Sie blieben nicht ganz aus (das taten sie nie), wurden aber seltener. Es war, als hätte mein Verstand endlich akzeptiert, was geschehen war. Die Zeiträume, in denen ich nicht an jene Nacht denken musste, wurden immer länger – zehn Minuten, zwanzig Minuten, eine halbe Stunde, eine ganze Stunde. Auch meine Konzentrationsfähigkeit kehrte zurück. Ich schrieb wieder einen guten Aufsatz an einem Stück herunter, statt ihn an mehreren Tagen mühsam zusammenzustoppeln; ich konnte mich in einen Film vertiefen; ich konnte über längere Zeit vergessen, wer ich war, wo ich war und – Wunder über Wunder –
was ich getan hatte
.
Zu meiner unglaublichen Erleichterung hörte auch der Albtraum auf. Nach einer besonders grausigen Abschlussvorstellung kam er nie mehr zurück. Ich hatte noch immer unangenehme Träume (ich hockte auf dem Boden der Schultoilette rittlings auf Emma Townley und hämmerte ihren Kopf mit dem Marmorbrett zu einem roten Brei), wichtiger aber war, dass es auch normale Träume gab. Angsträume wegen der Prüfungen (ich konnte die Fragen nicht lesen, weil die Schrift zu winzig war; ich wurde über mittelalterliche Geschichte statt moderne Geschichte geprüft, für die ich gelernt hatte); komische, surreale Träume (ich ging auf Stelzen durch die Wüste, während ein Wurf junger Hamster in meinem Ausschnitt herumwuselte; Mum verwandelte sich in eine riesige Henne, die autogroße Eier legen konnte). Auch romantische Träume gab es wieder: Nachdem Mum und ich zum fünften Mal
Tage wie dieser
gesehen hatten, flirtete ich mit George Clooney auf dem Rücksitz eines New Yorker Taxis. (Wir telefonierten beide mit Handys – anscheinend mit anderen Leuten, in Wirklichkeit aber miteinander. Er sagte: »Soll ich dich küssen?«, und ich erwiderte: »Das wäre sehr schön.«) Ich hatte sogar einen romantischen, besser gesagt, erotischen Traum, in dem ausgerechnet Roger vorkam. Er war schockierend eindeutig, und ich war tagelang verlegen, wenn er in meiner Nähe war.
Auch dass ich mich wieder für meinen Laptop interessierte, zeugte von meiner Genesung.
Ich hatte ihn seit jener Nacht nicht angerührt. Ich wollte ihn nicht einmal anschauen. Er war Teil des Grauens (in
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