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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
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theoretische Möglichkeit erschienen, doch nun schien sie unvermeidlich. Mittelalterliches Grauen im 21 . Jahrhundert. Meine brillante Karriere auf dem Abstellgleis, für wie lange, wusste ich nicht. Ich wäre gezwungen, meine Privatsphäre mit Mädchen zu teilen, die weitaus zügelloser und boshafter waren als Teresa Watson und Emma Townley. Das würde ich nicht überleben. Ich könnte die Brutalität, das Banausentum und den Schmutz nicht ertragen. Ich wusste, am Ende würde ich mir das Leben nehmen …
    »Gibt es denn sonst nichts?«, fragte ich und rang nach Luft, als zöge sich die Schlinge um meinen Hals schon zu. »Können wir denn sonst gar nichts tun?«
    Mum zuckte hilflos mit den Schultern. »Wir können die zwanzigtausend Pfund bezahlen.« Doch das war eher eine Frage als eine Feststellung.
    »Wir haben keine zwanzigtausend Pfund«, erwiderte ich. »Das ist mehr, als du in einem Jahr verdienst. Es würde ewig dauern, so viel Geld aufzutreiben.«
    »Ich könnte es besorgen, Shelley«, sagte sie leise.
    »Wie?«
    »Ich könnte es leihen, mit dem Haus als Sicherheit. Ich könnte eine Hypothek aufnehmen.«
    Bei der Vorstellung, dass Mum dem Erpresser so viel Geld bezahlen würde, wurde mir übel. Sie arbeitete ohnehin schwer für ihr kleines Gehalt. Der Gedanke, dass sie auch noch diese zusätzliche Last schultern sollte, war unerträglich. Und es wäre naiv zu glauben, dass er sich damit zufriedengeben würde. Er würde immer und immer wieder kommen. Wir müssten den Rest unseres Lebens mit diesem widerlichen Parasiten leben, der sich nach Lust und Laune bei uns bediente. Das wäre kein Leben mehr. Es wäre eine elende Sklaverei. Die traumatischen Erlebnisse vom 11 . April wären niemals abgeschlossen. Der Erpresser würde die Wunde aufreißen, sobald sie zu heilen begann.
    »Es wird nie aufhören, Mum«, sagte ich. »Wenn wir ihm einmal Geld geben, wird er immer mehr wollen.«
    »Das weiß ich, Shelley, das weiß ich doch.«
    Dann kam mir eine dumme Idee, die ich gedankenlos aussprach. »Was ist mit Dad? Könnte er uns nicht das Geld geben?«
    Mums Gesicht war voller Bitterkeit und Schmerz.
    »Ich würde ihn niemals danach fragen!«,
zischte sie. Eine weitere Diskussion schien ausgeschlossen.
    Meine Haut kribbelte vor Zorn. Sie tat Dad mit einer so kalten Endgültigkeit ab, als wäre er tot. Aber für mich war er nicht tot. Ich schluckte mühsam die Worte hinunter, die ich ihr entgegenschleudern wollte. Es war der falsche Zeitpunkt für diesen Streit.
    Lange herrschte Stille zwischen uns. Mum las wie besessen den Erpresserbrief, als könnte sie in den wenigen, mit Kugelschreiber verfassten Zeilen eine Antwort finden.
    »Dann war es das also?«, sagte ich schließlich. Unfassbar, dass unser Weg so plötzlich und hoffnungslos enden sollte.
    Mum schwieg. Sie kaute auf der Unterlippe und spielte mit dem Zettel, faltete ihn zu einem dünnen Streifen und zog ihn zwischen den Fingern ihrer rechten Hand hindurch. Dabei vermied sie peinlichst meinen Blick.
    Am liebsten hätte ich aus vollem Hals geschrien:
Ist das alles? Ist es das Beste, was dein rasiermesserscharfer Verstand hervorbringen kann? Ist es das Beste, was das Superhirn, die Frau, die alle Probleme löst, anzubieten hat?
    Ich schaute sie verächtlich an, während sie am Küchentisch in sich zusammensackte. Sie konnte kaum die Augen offen halten, weil sie wenig geschlafen und am Vorabend wieder einmal zu viel Wein getrunken hatte. Wenn sie nicht so schwach gewesen wäre und sich nicht so hätte gehenlassen, nachdem wir Paul Hannigan getötet hatten, wäre sie heute Morgen nicht ein solches Wrack und könnte eine Lösung finden, um uns aus diesem Dilemma zu befreien! Wäre sie nicht so schwach gewesen, wäre Dad vielleicht noch hier, um uns zu beschützen! Wäre sie nicht so schwach gewesen, wäre aus mir vielleicht keine Maus geworden – dann hätte ich mich gegen die besagten Mädchen behaupten können, und wir wären niemals in diese Situation geraten!
    Mit der Welle des Zorns kam aber auch die bittere Erkenntnis, dass ich trotz meiner sechzehn Jahre noch immer von Mum erwartete, dass sie wie eine Mutter handelte und mich beschützte. Noch immer erwartete ich, dass sie ein mütterliches Wunder vollbrachte und die Gefahr bannte, dass sie den Wolf, der unser Haus umkreiste, verscheuchte. Daher kam ich mir betrogen vor, als ich begriff, dass es heute keine mütterliche Magie und kein Wunder geben würde – nur das allzu grelle Sonnenlicht und die

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